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Usbekistan. Now and then.

All you need is plov. Das schien lange die durch den autoritären Herrscher Islam Karimov den Usbeken aufoktroyierte Lebenseinstellung gewesen zu sein. Wirtschaftlich abgeschottet. Politisch isoliert. Einer der repressivsten Staaten weltweit. Als Reisender war man zu Zeiten Karimovs bestenfalls geduldet. An den vielen Checkpoints wurde man jeweils argwöhnisch angeschaut. Und wehe dem Reisenden, der nicht sorgfältig alle Hotel-Registrierungen des OVIR aufbewahrte und bei der Ausreise vorlegen konnte. Damit ist jetzt Schluss. Es ist November 2023. Ich bin gespannt, was sich seit meinem letzten Besuch im Jahr 2006 alles getan hat. In den Kapäuschen der Checkpoints zwischen den Provinzen macht sich gähnende Leere breit. Dafür ist auf den Strassen umso mehr los. Einiges mehr. Touristen sind nun ausdrücklich willkommen und die bürokratischen Hemmnisse abgeschafft.

Back in the U.S.R.R. Das war die Befürchtung, als der Regime-Insider Mirziyoyev nach dem Tod Karimovs zum Präsidenten gewählt wurde. Doch mit seinem Reformwillen meinte er es ernst und verblüffte alle. Das Land, zwar immer noch autoritär aber nicht mehr so repressiv, ist definitiv im Aufbruch. Die Menschen atmen auf, erwachen von der Schockstarre. Eine kuriose unpolitische Tatsache aber bleibt: Usbekistan ist (neben Liechtenstein) das einzige ‚doubly landlocked‘ Land weltweit. Ein Binnenstaat, der ausschliesslich von weiteren Binnenstaaten umgeben ist.

Drive my car. Das meistgefahrene Auto in Usbekistan ist erwartungsgemäss ein Chevrolet. Seit 2008 produziert GM Usbekistan Autos im eigenen Land. Die alten Ladas, Schigulis und Moskvitch sind zwar auf dem Lande noch zahlreich, in den Grossstädten sind sie definitiv am Aussterben.

Get back. Zurück nach Samarkand. Zurück zum Registanplatz. Zurück zum Tatort. Dort, wo 2006, wenige Tage nachdem Italien die Fussballweltmeister feierte, für mich der GAU eintrat: mein Fahrrad wurde gestohlen! Ende Gelände. Das Gepäck hatte ich noch im Guesthouse, doch das Stahlross war weg. Aus der Traum. Und damit fing für mich eine emotionale Achterbahnfahrt an.

Help! ‚They cause more problems than they solve‘, hiess es damals über die Polizei im Reiseführer. Einvernahmen über Einvernahmen. Und ich wurde dann zu einer Falschaussage genötigt, musste mich formell vor laufender Kamera entschuldigen. Es war ein falscher Alarm meinerseits gewesen, unnötigerweise hatte ich für diese ganze Aufregung gesorgt. Die Polizei konnte so ihr Gesicht wahren, ich kam mir wie der letzte Trottel vor und das Rad war weg (hier kann die ganze Geschichte nachgelesen werden: https://ceraldi.ch/2006/07/26/ausgetraeumt/).

Not a second time. Ein zweites Mal lasse ich mich nicht mehr beklauen, habe ich mir damals geschworen. Jetzt bin bin ich aufgeregt, als ich mir in der Abenddämmerung meinen Weg durch die engen Gassen von Samarkand bahne. Schon bald sehe ich das Schild von B+B Bahodir. Es geht neben den Leuchtreklamen der ringsherum wie Pilze aus dem Boden schiessenden Hotels nun schon fast unter. Damals war es ein sehr beliebter Treffpunkt für Reisende. Trotz der harten Matratzen und den kratzenden Badetüchern. Und es ist praktisch so wie damals geblieben! Ich checke im B+B Bahodir. Die drei Söhne von Mr. Bahodir selig führen das Guesthouse weiter. Das Wiedersehen mit den Söhnen ist freudig, sie sind ganz gerührt, als sie die Fotos von ihrem Vater sehen. Sie mögen sich noch gut an den Vorfall erinnern und wir frischen die alten Erinnerung auf.

Das B+B Bahodir ist nur einen Steinwurf vom Registan-Platz entfernt, einer der prächtigsten Plätze Mittelasiens. 17 Jahre später ist hier der Bär los. Es herrscht eine regelrechte Jahrmarktstimmung rund um den Registan. Und das, obschon die Hochsaison vorüber ist. Tretvelos, Leihräder, Elektrotrotinetts in Reih und Glied, Verkaufsstände, Luftballons. Nur mit einem Eintrittsticket darf man den Platz betreten und die Medressen aus der Nähe bestaunen.

Mittlerweile lassen sich Einheimische zwischen dem Registan-Platz und der 800 Meter entfernten Bibi Khanim Moschee in offenen, elektrisch betriebenen Elektrobussen befördern. Manchen ist sogar diese Strecke zu weit.

Der Registan selber darf dann abends als Kulisse für eine kunterbunte Lichtshow dienen, um die Hundertschaft von Schaulustigen bei Laune zu halten. Den zumeist einheimischen Touristen gefällt es offenbar. 2006 war hier nicht viel los. Eine Handvoll europäischer Touristen. Praktisch kein Verkehr und sehr wenig Beleuchtung. Restaurants waren dünn gesät und am besten liess man sich im B+B ein einen Teller Plov kredenzen. Samarkand ist aus dem Dornröschenschlaf erwacht.

Vor allem den Einheimischen, die hier gruppenweise mit Reisebussen unterwegs sind, gönne ich es, dass sie nun endlich ihr eigenes Land bereisen können. Ich kann mich aber glücklich schätzen, diese Denkmäler zu einer anderen Epoche erlebt zu haben.

Nichtsdestotrotz sind die Bauten nach wie vor prächtig. So etwa die Moschee der Bibi-Chanum aus dem 15. Jahrhundert auf Befehl des Herrschers Timur (Tamerlan) erbaut.

Von hier ist es nicht mehr weit zur Nekropole des Shohizinda mit Mausoleen aus dem 9. bis 19. Jahrhundert.

Ticket to ride. Ich stelle mein Velo beim B+B Bahodir ein und nehme den Nachtzug nach Chiwa. Diesmal in der Holzklasse, d.h. mit sechs Betten pro Abteil, die offen sind. Nichts für klaustrophobisch veranlagte oder grosswüchsige Menschen. Seit 2018 gibt es eine direkte Zugverbindung nach Chiwa, vorher musste noch in Urgench für die letzten 30 Kilometer in eine ‚marhsrutka‘ umgestiegen werden.

Chiwa kenne ich noch nicht. Für viele Usbekistan-Reisende ist die Altstadt Ichan Qala der Höhepunkt einer Usbekistan-Reise überhaupt. Es handelt sich um eine Stadtoase von 700 mal 400 Metern, komplett von Stadtmauern umgeben und mit unzähligen Medressen, Moscheen und Palästen verziert.

Die Anlage ist wirklich beeindruckend und ein Freilichtmuseum. Und so schlendere ich durch die Gassen mit den unzähligen Hotels und geniesse, dass nicht mehr so viel los ist wie in den Sommermonaten.

Als ich am zweiten Tag Morgen gemächlich durch die Altstadt spaziere, kommt mir ein Tross von gutgekleideten Menschen entgegen. Ich vernehme ein paar Brocken Italienisch. Ich zücke den Fotoapparat und ein Herr mit weissen Haaren schaut mir in die Augen.

Tatsächlich, es ist der Staatspräsident Italiens, Mattarella, der in Usbekistan auf Staatsbesuch ist.

Nach zwei Nächten in Chiwa geht es mit dem Zug weiter nach Buchara. Auch diese Stadt hat das Schicksal aller Städte mit UNESCO-Kulturgütern ereilt: eine inflationäre Zunahme von Übernachtungsmöglichkeiten, touristische Infrastruktur, Souvenirshops und Touristen ohne Ende. Zu meinem Leidwesen kann das kulinarische Angebot nicht mit der Vielzahl an Unterkünften mithalten.

Buchara hat sich im Unterschied zu Samarkand den Flair der Altstadt erhalten können. Die Stadt ist 2500 Jahre alt, wurde durch Dschingis Khan erobert und zerstört und durch Amir Temur wieder aufgebaut und erlebte unter seinem Enkel Ulg’bek anfangs des 15. Jahrhunderts eine neue Blüte. Freilich nur, bis sie 300 Jahre später durch die Perser wieder zerstört wurde.

Vor Sonnenaufgang begebe ich mich zu einem der Wahrzeichen der Stadt, dem Chor Minor mit den vier Türmen. Ursprünglich war es Teil einer Medresa. Einer der vier Türme kollabierte 1995 und wurde eilig wiederhergestellt, ohne die Richtlinien der UNESCO zu befolgen. Billiger Zement und Stahl wurde verwendet. Das Wahrzeichen von Buchara ist aber nach wie vor das Kalon Minarett. Es steht im historischen Zentrum der Stadt.

Eine positive Überraschung ist das Chor Bakr, eine Nekropole wenige Kilometer von Buchara entfernt. Die Anlage ist zwar nicht ganz so prächtig wie diejenige um das Kalon-Minarett, dafür ist man hier praktisch alleine und nur sehr wenige Touristen verirren sich hierher.

Am späten Nachmittag lohnt sich ein Besuch der Zitadelle Ark, Residenz und Sitz der Khane und Emire von Buchara. Von hier hat man einen erhabenen Blick auf die Altstadt von Buchara.

The long and winding road. Vorgesehen war, von Samarkand über Tadschikistan und den Shahriston-Pass (bzw. -Tunnel) auf 3’300 Meter zurück nach Tashkent zu radeln. Genau die 5 Tage, die ich wegen der Augenlidentzündung pausieren musste, fehlen mir jetzt aber.

Ich lasse es mir aber nicht nehmen, zumindest über das Wochende nochmals nach Tadschikistan und nach Panjikent einzureisen. Es ist nur 60 Kilometer entfernt. Ein Visum ist heute nicht nötig. Unvorstellbar vor Jahren, dass man zwischen den zentralasiatischen Ländern derart unbürokratisch hin- und herreisen konnte.

Das Monument eingangs der Stadt aus Sowjetzeiten hat sich um keinen Deut verändert. Ich buche mir in Penjikent ein Taxi und möchte zumindest einen Ausflug zu den sieben Seen und dem Fan-Gebirge machen.

Einen tristeren und graueren Tag hätte ich mir nicht aussuchen können. Zudem scheine ich am Morgen grippeähnliche Symptome aufzuweisen. Am liebsten hätte ich dem Taxifahrer abgesagt und wäre im Bett liegengeblieben. Aber ich bin nun mal hier, ausruhen kann ich mich später. Immerhin müssen wir nach dem fünften See wegen eines Erdrutsches umkehren und sind dann am frühen Nachmittag schon wieder zurück. Es soll mir recht sein.

Ich haue mich für zwei Stunden aufs Ohr und spaziere danach zur Lenin-Statue und dem Tourist Inn Hotel. 2006 war das die einzige Unterkunft. Ohne Strom und fliessendes Wasser. Mittlerweile sind die Zimmer renoviert und ganz hübsch hergerichtet. Heute gibt es im Bazaar Bananen, Kiwis und Orangen zu kaufen. Damals nur eine Wunschvorstellung. Es scheint sich in Tadschikistan einiges getan zu haben.

Der Rest ist schnell erzählt: ich fahre zurück nach Samarkand. Nächstentags dann mit dem Zug nach Tashkent. Die Mitnahme des Velos ist problemlos. Einen Velokarton habe ich bereits vorher organisiert und hole diesen ab. Und zu meiner Freude werde ich noch zur schweizerischen Botschaft eingeladen.

Von Tashkent fliege ich nach Istanbul, wo ich drei Nächte bleibe. Obschon Ende November ist, wimmelt es nur so von Touristen. Dabei hatte ich es mir etwas ruhiger vorgestellt. Der Glanz scheint in Istanbul etwas abhanden gekommen zu sein. Vielerorts täte der Stadt ein bisschen Renovation gut. Am liebsten halte ich mich auf der Galata-Brücke auf, wo ich die zahlreichen Hobby-Fischer abzeichnen kann.

Das garstige Wetter ist wenig einladend und ich verziehe mich ins grandiose Archäologie-Museum und danach in die „Pudding-Bar“ bzw. dem Lale Restaurant in Sultanahmet, Treffpunkt von Reisenden auf dem Hippy-Trail in den 60-er Jahren.


Noch lange nicht langweilig

Den letzten Beitrag habe ich in Almaty veröffentlicht. Mittlerweile bin ich bereits im 1’800 Kilometer entfernten Chiva in Usbekistan. Höchste Zeit für eine Aktualisierung also. 

Die fast 800 km von Almaty bis nach Shymkent sind eher flach und nicht besonders reizvoll. Abgesehen davon, dass es nicht viele Alternativrouten gibt und man auf der Hauptverkehrsachse unterwegs ist. Ich schenke sie mir und stelle dafür die kasachische Bahn auf die Probe. Am Morgen fahre ich zum Bahnhof. Innert 10 Minuten erhalte ich für umgerechnet 20 Franken ein Business-Ticket für den Nachtzug. Danach folgt der wichtigere Teil: der Velotransport. Das entsprechende Büro ist rasch gefunden. Das Stahlross wird gewogen, 5000 Tenge, rund 10 Franken, muss ich berappen und ich soll mich eineinhalb Stunden vor der Abfahrt einfinden. Es klappt alles wie am Schnürchen. Ich vertraue dem Gepäckdienst mein Rad an und warte danach eine knappe Stunde. Mein Schlafabteil im modernen, von Spaniern gebauten Zug, ist rasch gefunden. Alles sehr sauber, weisse Laken, zahlreiche Kontrolleure im tadellosen, blauen Anzug. An Freundlichkeit sind sie nicht zu überbieten. Der Zug fährt pünktlich ab und kommt genauso pünktlich um 5.10 an. Alles in allem: Daumen hoch. 

Da ich ein gutes Stück nach Westen gereist bin, ist es nun eine knappe halbe Stunde länger hell am Abend. Und dunkler am Morgen. Allerdings nur bis ich in Usbekistan bin. Dann werden die Uhren wieder um eine Stunde zurückgedreht.

Ich muss nun noch zwei Stunden in der Dunkelheit ausharren, trinke Kaffee, sitze rum und fahre dann irgendwann los, um in der Morgendämmerung eine Stadtrundfahrt zu absolvieren. 

Shymkent weist knapp eine Million Einwohner aus und ist ohne besondere Anziehungskraft. Ich möchte hier nur eine Nacht verbringen und dann gleich weiterziehen. Aber nächstentags regnet es Bindfäden. Und mein linkes Augenlid fängt an zu kratzen und schwillt an. Ich ahne es schon: eine Augenlidentzündung oder ein Gerstenkorn. Ans Weiterfahren ist nicht zu denken. Ich sehe bald aus wie Rocky Balboa nach einem Boxkampf. Eine Zwangspause von weitern vier Tagen Krankenbett, bis das Auge abschwillt, ist angesagt. Immerhin habe ich mit dem Hostel Sweet Home, von einer Griechin geführt, ein äusserst saubereres Guesthouse gefunden. Tagsüber schaffe ich es knapp bis in den nächsten Magnum Supermarkt, um ein paar Viktualien einzukaufen und mir dann etwas zu kochen. 

In einer Apotheke hole ich mir Augentropfen und eine Augensalbe. Es wird für mich die mühsamste Zeit meiner ganzen bisherigen Reise werden. Noch nicht einmal richtig lesen kann ich. Und es läuft mir Zeit davon, die ich anderweitig gebrauchen könnte. Aber fluchen nützt nichts, es ist kein Beinbruch, ich habe keinen Zeitdruck und zum Glück kann ich irgendwann einmal endlich wieder motiviert starten. 

Die Kasachen machen es mir in den drei Tagen bis zur usbekischen Grenze wirklich schwer, sie nicht ins Herz zu schliessen. Von Shymkent geht es zunächst zur Ortschaft Sajam. Sobald ich ausserhalb der Stadt bin, es ländlicher wird und ich der Anonymität entkomme, spüre ich Neugier und der Kontakt zu den Einheimischen ist schnell hergestellt. Schon nach wenigen Kilometern die erste Einladung zum Tee von einem Kasachen, der sein Pferd am Strassenrand zum Grasen ausführt.

In Sajam schaue ich mir rasch die Freitagsmoschee und ein kleines Mausoleum an und werde nochmals eingeladen. Beide Einladungen lehne ich allerdings dankend ab, denn ich will heute weiterkommen. Die Landschaft wird hügelig, ich sammle einige Höhenmeter und kann damit die sehr stark befahrene Verbindungsstrasse Shymkent nach Tashkent umgehen. 

Auf 1’000 Metern über Meer, biege ich in einen Trampelpfad ab, stosse mein Rad über Weizenstoppeln und schlage mein Zelt versteckt hinter ein paar Hügeln neben einem Acker auf. 

Als ich kochen möchte, dann die Überraschung: die Benzinpumpe des Kochers ist undicht, das Benzin fliesst regelrecht raus, sobald ich Druck erzeuge. Ich reinige alle Teile, fette die Lederdichtung, doch nichts zu machen. Nach einer Stunde, es ist bereits dunkel, gebe ich auf. Das Teil ist kaputt, muss ersetzt werden. Mein nächster Kocher wird nicht mehr von Primus sein, soviel steht fest. Ärgerlich, weil vor der Abreise die alte Pumpe ebenfalls den gleichen Defekt hatte und ich eine neue gekauft hatte. Es gibt dann halt nur Brot, Pferdesalami, Käse und Erdnussbutter zum Abendessen. Mit 14 Grad ist es noch erstaunlich warm, es ist diesig und Vollmond. 

Ich fahre dann runter zu einer Ortschaft, wo ich dann auf die ‚Autobahn‘ ausweichen muss, um nicht einen Riesenumweg zu fahren. Jumadulla, ein Restaurantbesitzer Mitte 50, lädt mich dort nach einem kurzen Schwatz zu Laghman und Samosa ein. Nach 14 Kilometern Highway kann ich wieder auf einer normalen Strasse fahren. Es ist zwar noch nicht einmal 15 Uhr, doch die 50 Kilometer bis Tashkent muss ich vertagen. Erstens geht um 17.22 Uhr die Sonne unter.  Zweitens muss ich mit Chernayevka den am meisten frequentierten Grenzübergang Zentralasiens passieren. Und drittens habe ich es mir zur Angewohnheit gemacht, bereits um die Mittagszeit in eine Grossstadt reinzufahren. Im Abendverkehr nach einer Bleibe suchen zu müssen und auf die Gefahr hin, von der Dunkelheit überrascht zu werden, ist zu stressig.

Ich stelle mich also aufs Zelten – ohne Kocher – ein. Mehr aus Neugier frage ich in Qazigurt nach, ob es eine gastiniza habe. Es soll eine geben, meint ein Herr. Ob sie offen sei, ist aber fraglich. Ich frage dann nochmals nach. Mels, der gerade mit seiner Familie im Auto losgefahren ist, führt mich dahin, doch die Herberge hat wohl schon vor Jahrzehnten seinen letzten Gast verabschiedet. Kurzentschlossen meint er, ich solle ihm folgen. Er fährt zu seinen Eltern zurück, lädt mich dort ab, weist mir einen Schlafplatz im Essraum zu und verschwindet dann. Sein Name sei übrigens leicht zu merken: Mels wie Marx, Engels, Lenin und Stalin, meint der Elektroingenieur scherzend.

Um 17 Uhr kommt er mit seiner Frau und seinen vier Kindern zurück, heizt mir Wasser auf, damit ich mich waschen kann und die Frau bereitet das Abendessen vor. Eine sympathische Begegnung. Weniger jedoch seine vier riesigen Hunde – zum Glück angebunden oder im Zwinger. Da er und seine Frau am nächsten Tag zur Arbeit müssen, starte ich früh, doch die obligaten Erinnerungsbilder müssen sein.

Keine zehn Kilometer vor der Grenze fährt ein weisser Lada neben mir her und eine Babuschka wie aus dem Bilderbuch streckt mir lächelnd eine 100 Tenge-Note entgegen. Fliegendes Sponsoring. 

Mir wird fast ohnmächtig, als ich dann an der Grenze die 200 Meter lange, vierspurige Kolonne von überladenen Vehikeln, Bussen und Autos sehe. Doch ich kann den Trumpf des exotisch anmutenden Radreisenden ziehen und lächelnd fahre ich an allen vorbei. Und muss dann gar nicht so lange anstehen. Nach einer Stunde bin ich durch, habe den Einreisestempel von Usbekistan in meinem Pass, wechsle meine restlichen Tenge in usbekische Som und verlasse den hektischen Ort rasch. 

Schon fast fluchtartig habe ich vor 17 Jahren Usbekistan verlassen und mich nicht weiter um einen Termin beim Polizeikommissariat gekümmert (dazu mehr im nächsten Beitrag). Was für ein Unterschied zu 2006, als ich in einem bürokratischen  Spiessrutenlauf zwei Wochen in Ankara verbracht habe, um alle meine zentralasiatischen Visas zu sammeln. Heute kann man als Europäer visumsfrei für 30 Tage in alle zentralasiatischen Länder einreisen. Ausser Turkmenistan. Derzeit gibt es noch nicht einmal ein Transitvisum. 

Ich bin gespannt auf das neue Usbekistan, mit rund 35 Millionen Einwohnern das bevölkerungssreichste Land in Zentralasien. Seit dem Tod des Autokraten Islam Karimov 2016 und der Machtübernahme durch den neuen Präsidenten Shavkat Mirziyoyev weht ein neuer Wind. Das Land öffnet sich nach innen und aussen. Eine neue Ära hat begonnen. Touristen sind nicht mehr einfach geduldet sondern willkommen.

Tashkent ist nicht mehr weit. Der übliche üble Grossstadtverkehr und bald bin ich in meiner Unterkunft. Ich bleibe nur einen Tag, ziehe an einem ATM eine Million Som, kaufe mir eine Gaskartusche für den Kocher, besuche das historische Museum und fahre gleich wieder los. 

Auf der Karte verspricht die Strecke nach Samarkand langweilig zu werden. Flach, oft auf stark befahrenen Strassen. Ich mache das Beste daraus, plane eine Strecke auf Nebenstrassen und einen Abstecher in die Berge und ins Grenzgebiet zu Tadschikistan, vor wenigen Jahren noch unvorstellbar. 

Die ersten Tage übe ich mich als Flachland Indianer. Es macht mir Spass, meinem GPS-Trackzu folgen, an Wasserkanälen entlang, durch ländliches Gebiet und durch kleine Dörfer, wo ich oft die Aufmerksamkeit auf mich ziehe. Schnell wird klar, dass auch die Usbeken sehr gastfreundlich sind. 

In einem Mini Market möchte ich Brot kaufen. Die Lehrer von der Schule nebenan bringen mir Plov und laden mich zum Essen ein. Es sei ein tadschikischen Dorf, klären sie mich auf. Keine Chance, die Einladung abzulehnen.

Beim Fluss Syrdarja muss ich dann auf die Hauptverkehrsachse wechseln. Nach der Brücke über den Fluss geben sich alle Fischverkäuferinnen ein Stelldichein. Die Fische sind halb geräuchert und riesig.

Zahlreiche Granatäpfel-Stände am Strassenrand sorgen für weitere Abwechslung und ich werde mit Saft und Früchten beschenkt. 

Der Fluss Syrdarya entstammt dem Fluss Naryn in Kirgistan, dem ich vor einigen Wochen gefolgt bin und mündet in den nördlichen Aralsee. Ein ausgedehntes Bewässerungssystem, das zu Sowjetzeiten wegen der Baumwollproduktion forciert wurde, entzieht dem Fluss sein Wasser. Die Umweltkatastrophe wurde in Kauf genommen: der Aralsee ist praktisch ausgetrocknet und nur noch ein Schatten seiner selbst. 

Bei einem Pumpwerk frage ich den Wärter in seinem Kapäuschen, ob ich nebenan zelten könne. Neben einem alten verlassenen Haus finde ich einen Schlafplatz. 

Die Fahrt durch das steppenhafte Gebiet mit ehemaligen Kollektivfarmen ist gar nicht so langweilig und meistens gelingt es mir, auf weniger befahrenen Strassen unterwegs zu sein. 

In Zomin ist dann mit dem flachen Abschnitt Schluss. Von hier steigt die Strasse zunächst sanft an, dann geht es richtig bergauf. Unterwegs erhalte ich eine Flasche Bier geschenkt. Bei einem Aussichtspunkt mit Blick auf einen Stausee mache ich kurz Halt. Junge Usbeken mit dem obligaten weissen Chevrolet made in Usbekistan lassen sich mit mir fotografieren. 

Wegen der Augengeschichte bin ich etwas in Bedrängnis gekommen mit meinem Zeitplan. Dennoch lasse ich mir den Abstecher in den Zaamin Nationalpark nicht nehmen. Ich habe wenig Informationen darüber gefunden. Es gibt ein paar teure Hotels dort, eine neue Seilbahn. Wandern und Zelten sind aber verboten, es ist militärisches Gebiet an der Grenze zu Tadschikistan. 

Ich fahre einfach mal drauf los und schaue, was mich in der Schweiz Usbekistans erwartet. Wenige Kilometer vor dem Checkpoint zum Park finde ein nettes Family guesthouse, genau meine Kragenweite. Ein einfaches Zimmer bei einer Familie, ein freundlicher Gastgeber und zum Abschied erhalte ich Äpfel und Baumnüsse geschenkt. 

Ich bin bereits auf 1’300 Metern, nachts ist es kalt, tagsüber angenehm. Ich bezahle beim Checkpoint die Eintrittsgebühr und ab jetzt heisst es nicht zuviel Zeit verlieren und die 40 km und 1’500 Höhenmeter bis zum Nachmittag bewältigen, bevor ich mein Zelt irgendwo aufschlagen darf. 

Ein 700 Jahre mächtiger Walnussbaum am Strassenrand hält mich zunächst auf. Die gelb-braunen Herbsttöne gefallen mir sehr. Im Sommer ist es hier sehr grün und angenehm frisch und viel los. Es ist ein beliebter Ausflugsort, um der drückenden Sommerhitze zu entkommen.

Ich gewinne beständig an Höhe und bin dann bald in Zaamin, wo das Sanatorium aus den 70-er Jahren eine markanten Punkt setzt. Hier gibt es neuerdings auch eine Seilbahn, für die ich leider keine Zeit habe. 

Nach einer kurzen Mittagsrast fahre ich weiter und bald ist die Passhöhe auf 2450 Metern erreicht. Der Anblick auf der anderen Seite offenbart die Berge zur tadschikischen Grenze. Zwei, drei Kilometer und dann ist Schluss mit dem Asphalt. Offenbar kehren hier alle um und nur die wenigsten fahren hier weiter. 

Ein Usbeke rät mir eindringlich ab, weiterzufahren, die Strasse sei zu schlecht (tatsächlich ist die Piste für tadschikische Verhältnisse ausgezeichnet und mit dem Rad sogar ein Hochgenuss). ‚Betreten verboten‘-Schilder spornen mich an, keine Zeit zu verlieren. Ich möchte es nicht darauf ankommen lassen. 

Endlich dann bin ich durch, es ist bereits nach 16 Uhr. Auf einer Anhöhe sehe ich Handwerker, die ein neu erstelltes Haus isolieren. Genau auf deren Höhe habe ich meinen ersten richtigen Platten am Hinterrad. Damit hat sich die Frage der Übernachtung auch gleich erübrigt, denn sie bieten mir an, im halbfertigen Haus zu schlafen. Der junge 35 jährige Besitzer Oqilbek kommt vorbei. Er wolle hier ein Hotel eröffnen, in einigen Jahren soll ja die Strasse neu gemacht sein. Die Lokalität ist ausgezeichnet ausgesucht, die Aussicht unschlagbar. 

Nun, es wird im kleinen Zimmer eingeheizt, einer kocht und bald wird die erste Flasche Vodka geöffnet und angestossen. Die Stimmung ist gut. Offenbar freuen sich die drei Handwerker über meinen unerwarteten Besuch. Und zwar derart, dass wir am Schluss drei leere Flaschen Vodka entsorgen. Um Mitternacht bin ich sturzbesoffen, anders kann ich es nicht ausdrücken. 

Am nächsten Tag starte ich spät, erst um 11 Uhr. Mein Kopf brummt und es fängt gleich mit 500 Höhenmeter Steigung zum nächsten Pass an. Na gut, dann kann ich den Restalkohol noch rausschwitzen. Die Strasse wird wirklich nicht oft befahren und ist teilweise zugewachsen. 

Es folgen herrliche 20 einsame Kilometer auf einer recht ordentlichen Piste bis zur ersten Ortschaft. Und schon bald fährt Oqilbek in einem Lada neben mir und lädt mich zum Essen im Haus seines Onkels ein. 

Nach einer Stärkung fahre ich dann weiter, damit ich anderntags Samarkand erreichen kann. Die Ortschaften nehmen zu, ein geschützter Zeltplatz schwierig zu finden. Ich frage daher nach Bakhmal in einem Dorf, ob ich irgendwo mein Zelt aufstelle könne. Nicht ganz unerwartet werde ich dann gleich von Shirmad eingeladen. Nun steht mir die Schlussetappe nach Samarkand bevor. Zunächst ein paar Höhenmeter und dann wird es wieder flach. 

Nach einem Lavash-Döner in Osmat und einem Schwatz mit Usbeken an einer Strassenkreuzung fahre ich noch zwei Stunden bis Bulungur. Dort möchte ich nochmals kurz etwas Kleines essen, bevor ich die letzten 30 Kilometer nach Samarkand in Angriff nehme. Die Entscheidung wird mir abgenommen. Ich fahre an einem Restaurant vorbei, laute Musik und viele festlich gekleidete Männer winken mir energisch zu. Keine Chance, ich werde schon fast reingezerrt. Eine ‚little wedding‘, eine Verlobungsparty steuert gerade ihrem Höhepunkt entgegen. 

Ich werde gleich reich bewirtet und ein bisschen unwohl ist mir schon, verschwitzt, unrasiert und seit fünf Tagen ohne Dusche. Am T-Shirt zeichnen sich schon Slazkrusten ab. Macht nichts! Schon bald lande ich auf der Tanzfläche und schwinge das Tanzbein zu Modern Talkings ‚Cheri cheri Lady‘. Einfach herrrlich. Was für ein Spass! Wenn es am schönsten ist, soll man bekanntlich gehen. Nach einer Stunde verabschiede ich mich. Meine Packtaschen werden noch zünftig mit Früchten gefüllt.

Die Alternativroute schenke ich mir nun, da ich in Verzug bin, und steuere die direttissima zu. Viel Verkehr aber genügend Platz auf der Schulter. 

Die Sonne geht langsam unter. Punktlandung. Bei Sonnenuntergang erreiche ich Samarkand und peile den berühmten Registan-Platz an. Erinnerungen an 2006 werden wach, als sich hier ein Drama abgespielt hat. Ich checke, wie damals, gleich um die Ecke im Bed and Breakfast Bahodir ein, ein beliebter Treffpunkt für Reisende. Der Sohn von Mr. Bahodir selig ist erfreut über mein Erscheinen und kann sich noch gut an mich erinnern. Er ist gerührt über die Fotos von seinem Vater, die ich ihm mitgebracht habe.