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Atlas, Berberaffen und Zedernwälder

Zunächst möchte ich all jenen ein grosses Dankeschön aussprechen, die eine Spende an Helvetas geleistet haben und mich so noch zusätzlich motivieren. Es wird mir eine Ehre sein, die gesammelten Spenden persönlich überbringen zu können. Bis dahin werden aber noch ein paar Schweisstropfen falle, und vielleicht auch ein paar Regentropfen.


Eine kleine Berichtigung muss ich hier zum letzten Artikel noch anbringen. Der Durchfall war alles andere als überstanden. Bereits bei der Abfahrt in Moulay Idriss stösst mir das Morgenessen auf. Ich halte die verschiedenen Gerüche der Grillstände, der open-air Metzgereien mit ihren Auslagen an fettigem Schaffleisch, den Gestank von verbrennten Haushaltsabfällen und verwesenden Hundekadavern am Strassenrand nicht mehr aus. Die schwarz qualmenden Fabriken am Rand von Meknès geben mir den Rest. Brechreiz. Ich kann gerade noch am Strassenrand anhalten, wie ein echter Rennvelofahrer verliere ich keine Zeit und steige nicht vom Velo ab. Übergebe mich und leere meinen ganzen Mageninhalt. Geschwächt fahren wir in die Stadt rein. Der Zufall will es, dass genau jetzt der erste Regen nach fünf Monaten Dürre einsetzt. Durchnässt, bereits in der Dunkelheit suchen wir nach einer Bleibe. Das Hotel, das wir im Reiseführer rausgesucht haben, ist dank der Hilfe eines Parkwächters schnell gefunden. Dieser hat die Unverfrorenheit, Geld für seine Dienste zu verlangen. Ob er sich dafür nicht schäme, frage ich ihn, sowas sei mir in einem islamischen Land noch nie passiert. Der Junge im Hotel dann das Gegenteil, alles andere als geschäftstüchtig. Die Velos müssen draussen bleiben. Wir bleiben mit den Velos draussen. Die Auberge de Jeunesse ist zum Glück schnell gefunden. In der Küche kochen wir uns Reis. Reis zum Znacht, zum Zmorge, Zmittag und Znacht. Mit Kartoffeln, Petit Henrys (so heissen hier die Petit Beurres), Apfelmus, Poulet. Jeweils als weicher Brei. Der Magen erholt sich aber endlich. Und von Loperamid und Motilitätshemmern, die wie ein Pfropfen wirken und verhindern, dass sich die Übeltäter verziehen können, lasse ich inskünftig die Hände.
Wir können unsere Velos bei einer französisch-marokkanischen Familie in Meknès unterstellen und nehmen den Zug nach Rabat. Das funktioniert einwandfrei. Die zweite Klasse ist sehr sauber und vergleichbar mit derjenigen in der Schweiz. Sogar sauberer und ohne haufenweise Gratiszeitungen und PET-Flaschen. Zugfahren ist in Marokko sehr attraktiv. Für wenig Geld kann man ein Round-Ticket kaufen. Die gebräuchlichste Art des Transportes sind natürlich motorisierte Fahrzeuge. Grand Taxis, Petit Taxis, Busse, Lastwagen. Erstaunt hat mich, wie riesig die Youngtimer, bzw. Oldtimer-Szene hier in Marokko ist, allen voran die Gilde der Mercedes-Fahrer.

Aber auch Esel und Maultiere sind vom marokkanischen Alltag nicht wegzudenken. Die werden hier nicht aus folkloristischen Gründen gehalten, sondern verrichten Schwerarbeit und müssen beispielsweise Felder pflügen. Der Anblick ist nicht selten hier. Einzig „la vache qui rit“ hat hier gut Lachen. Dieser Schmelzkäse gehört hier in Marokko schon fast neben Tajine, Couscous und Minztee zur Nationalspeise. Nichts zu lachen haben hingegen Schafe. Die werden hier auf Schubkarren, auf Eseln, eingepfercht in Lastwagen, in Kofferräumen transportiert. Hinten auf dem Mofa halbtot gebunden. In diesen Tagen haben sie ein besonders hartes Los. Am 6. November wird nämlich im ganzen Land Aïd el Kebir gefeiert. Ein wichtiges muslimisches Familienfest, an dem der Bereitschaft Abrahams gedacht wird, Gott zu folgen und seinen Sohn Isaak zu opfern. Marokkanische Flaggen werden in allen Ortschaften aufgehängt, Familienbesuche mit entsprechender Zunahme von Verkehr stehen an und die Tradition sieht eben vor, dass jeder Haushalt, der es sich leisten kann, ein Schaf schlachtet.


Zurück nach Rabat. Die Jagd auf die farbigen Stempel und Kleber im Pass ist eröffnet. Montag, Punkt 9 Uhr stehen wir vor der mauretanischen Botschaft. Bravo. Gerade einmal etwa 30 Personen stehen bereits Schlange. Senegalesen, Overlander, Expats, Individualtouristen, Töfffahrer. Die üblichen chaotischen Szenen, Geschubse, Geschrei, Rumfragerei, Rempeleien. Wo gibt es das Formular ? Am Schalter. Nach vorne drängeln, eines ergattern. Formular im Stehen ausfüllen. Adresse in Mauretanien ? Kein Problem, schreib einfach „Hotel Nouakschott, Nouakschott“ hin. Eine Stunde Vorgeschmack auf Mauretanien und Senegal. Die Hauptstadt Marokkos gefällt uns sehr: elegant, modern (mit einer neuen Strassenbahn), international (insbesondere Afrikaner aus dem ganzen Kontinent sind hier zu sehen), überschaubar. Wir quartieren uns in der Medina im Hotel Marrakesh ein (mit unserer Hotelwahl greifen wir wohl stets meine Route vor), essen praktisch täglich im Restaurant de la Libération, dem wohl besten Restaurant in der ganzen Medina. Um ein Bild der Preise zu bekommen: für zwei Suppen Harira, grilliertes Poulet, Brochettes, Cola und Kaffe bezahlen wir 74 Dirham, umgerechnet 7 Euro. Wir besuchen das Quartier „Kasbah des Oudaïas“, sehen uns die Hassan Moschee von draussen an. In Marokko dürfen Nicht-Muslime, anders als etwa in der Türkei oder im Iran, Moscheen leider nicht besuchen. Das Mausoleum des 1961 verstorbenen Königs Mohammed V dürfen wir wiederum ansehen. Und sogar die prachtvoll gekleidete königliche Garde abfotografieren. Die Marokkaner sind ansonsten eher fotoscheu und viele lehnen es zu meinem Bedauern leider ab, abgelichtet zu werden.

Fotomotive gibt es dafür mehr als genug im Souk, der vor allem am späten Nachmittag und abends sehr gut besucht ist. Enge Gassen, in denen sich kleine und kleinste Geschäfte aneinanderreihen. Das Angebot scheint sich zwar überall zu wiederholen, es gibt unzählige dieser kleinen Lebensmittelläden, die auf wenigen Quadratmetern einige hundert Produkte anbieten. Am Boden und auf Handwagen wird die Ware ausgelegt. Ansonsten findet sich im Souk alles Mögliche: Kleider, Babouches, gebrannte Musik-CD’s, Haushaltartikel, gedörrte Früchte, Oliven, Nüsse, jegliche Esswaren, imitierte Markenkleider. Ein Gewühl von Marktschreiern, Schneckenverkäufern, Bettlern, Schuhputzern.

Erwartungsgemäss können wir am Mittwoch das Visum abholen. Ins Taxi, zum Bahnhof, in den nächsten Zug nach Meknès, unterwegs halte ich einen Schwatz mit einem anderen Schweizer, der sich mit seiner Familie in Fès für einige Monate niedergelassen hat, um Arabisch zu lernen. Meine Arabisch-Kenntnisse sind da schon einiges bescheidener. Immerhin gelingt es mir, einigermassen auf arabisch einzukaufen und die Leute nehmen meine Anstrengungen sehr positiv auf.

In Meknès empfängt uns Nerjam, der junge Angestellte aus der Auberge de Jeunesse, freudig und umarmt uns beide. Am nächsten Tag regnet es Bindfäden und wir legen einen weiteren Ruhetag ein. Zeit, um die Stadt genauer anzusehen. Das Mausoleum von Moulay Ismail beispielsweise, dem grausamen Sultan aus dem 17. Jahrhundert. Aber auch Zeit, um im grossen Supermarkt Label Vie (ausgesprochen La belle vie…) einzukaufen, vor allem seit langem wieder einmal zwei kühle Bier. Spirituosen werden hier in einem separaten Raum feilgeboten und können dort diskret bezahlt werden, um sie nicht an den Hauptkassen auf das Fliessband ausbreiten und sich selber outen zu müsssen. Die Leute stehen etwas verstohlen im Alkoholraum herum, als wären sie einem Erotikladen und würden sich schmutzige Heftchen anschauen.
Endlich können wir wieder unsere Räder satteln. Richtung Mittleren Atlas und Azrou. Wir schaffen es nicht ganz und müssen auf der Passhöhe auf 1‘475 Metern Höhe hinter einem Hof zelten. Es wird eine kalte Nacht, um 5 Grad. Die Gelegenheit, um unsere neuen, vom Outdoor-Shop Landweg in Bubendorf gesponserten Daunenschlafsäcke zu testen. Am nächsten Morgen kommen wir keine 20 Meter weit: mein erster Platten ! Nachdem der Platten geflickt ist, können wir endlich einen Fotostopp auf dem Aussichtspunkt einlegen, danach geht es runter nach Azrou. Von hier dann wieder rauf in die Zedernwälder der Réserve Naturelle d’Ifrane. Und bereits nach wenigen Kilometern treffen wir, wie im Reiseführer vorhergesagt, auf wild lebende bzw. kopulierende Berberaffen. Danach führt ein Höhenweg auf rund 1‘800 Metern mit unzähligen Kurven durch Berberdörfer und eindrückliche Eichen- und Zedernwälder. Es finden sich immer wieder Monumente und Giganten von Zedern, 30 bis 40 Meter hoch. Mit solchen Wälder rechnet man nicht unbedingt in Marokko. Die Zedern scheinen aber hier gut zu gedeihen. Die Behausungen der Berber sind teilweise sehr schlicht: einfache Häuser mit Flachdächern, Plastikzelte. Vereinzelt betteln Kinder und verursachen mit ihren Begehrlichkeiten eher Heiterkeitsanfälle: „Donnez moi un carton“ (gemeint war wohl „bonbon“), „donnez moi un stylo rouge“ (wieso will niemand Papier?).


Die nächsten Tage sind ganz nach unserem Geschmack: praktisch kein Verkehr, wunderbare Landschaften, reine Luft. Besser als die stickige und staubige Luft unten. Wir kommen ins Berberdorf Aïn Leuh, die Sonne scheint, angenehme Temperaturen um 25 Grad. Hier können wir unsere Gemüse- und Früchtevorräte aufstocken, für 4 Dirham (rund 40 Rappen) kaufen wir Mandarinen, Äpfel, Zwiebeln, Karotten, Peperoni ein. Wir bestellen im Hotel Laayoune (diese Ortschaft liegt auch auf meiner Route…) auf dem Hauptplatz einen Kaffee. Die Maschine funktioniere nicht, meint der Kellner, es gebe aber Nescafé. Kein Problem. Er läuft schnell zum Laden nebenan, besorgt sich zwei Sachets Nescafé. Wir essen unsere Fladenbrote, mit fingerdicken Schichten Nutella. Bestellen nochmals zwei Café au lait. Der Kellner rennt wieder zum Nachbar nebenan. Nutella, die würzige Halal-Koutobia-Dinde-Wurst, Vache qui rit-Schmelzkäs, Bananen und Fladenbrot sind tagsüber unsere Grundnahrungsmittel.

Wohlgenährt starten wir den Tag. Ausgangs Azrou ruft mich ein Junge, der ganz offensichtlich ein mechanisches Problem an seinem Velo hat, laut mit „Hey“ an. Ich gebe ihm zu verstehen, dass man allenfalls Hunde derart anspricht, aber sicher nicht Menschen. Er und seine zwei Kumpanen begrüssen mich danach über freundlich und ich repariere ihm seine verbogene Kette. Wir radeln wieder durch dichte Wälder, unterbrochen durch steppenartige Hochebenen und karstigen Abschnitten. Gelb leuchten die Laubbäume, die den See Aguelmame Ouiouane umgeben.
Und dann geht es runter zu den Quellen des Flusses l’Oum er Rbia. Aus rund 40 Quellen mit kristallklarem Wasser bildet sich hier ein strömender Fluss. Leider sieht man nicht viel, denn sämtliche Quellen sind durch schäbig wirkende Verkaufs- und Verpflegungsstände zugepflastert. Zum Glück sind aber alle leer und wir ganz alleine. Es ist Montag Morgen, wir sind ausserhalb der Saison. Ein Berber vermietet uns ein einfaches Zimmer ohne Strom und Wasser, dafür mit Gasbeleuchtung, in das wir die Velos gleich hineinfahren können. Eher der Form halber drücke ich den Preis von 100 auf 80 Dirham runter. Immer noch teuer, aber uns soll es recht sein. Er ist um dieses gute Geschäft wohl sehr froh. Jedenfalls beauftragt Mohammed seine Mutter, uns am Morgen zu einem Tee einzuladen. Sie holt uns ab, wir laufen den steilen steinigen Weg rauf. In einem sehr einfachen aber sauberen Hof steht der Teppich mit einem kleinen, runden Holztisch bereits bereit. Uns wird ein stark gezuckerter Pfefferminztee serviert, ein leckeres Eieromelette, eine Schale mit Olivenöl, um das frisch zubereitete Fladenbrot darin zu tränken.


Um aus der modernen Grosstadt Beni Mellal rauszukommen, brauchen wir über eine Stunde. Es ist Wochenmarkt, der Verkehr auf der Durchgangsstrasse steht still. Weiter vorne liegt ein verletzter Velofahrer auf der Strasse und blockiert den Verkehr. Die Ambulanz wird Mühe haben, sich einen Weg hierhin zu bahnen. Der Unglückliche ist wohl angefahren worden, blutet aber zum Glück nicht. Obschon die Strasse danach flach ist, ziehen Wolken auf, ein Nieselregen setzt ein. Es herrscht reger Verkehr, die Strasse ist eng, ohne Pannenstreifen, wir werden immer wieder durch lautes Hupen auf den Schotter abgedrängt. Als ich auf der Höhe einer Primarschule Jagd auf einige steinewerfende Kinder mache, rutscht Mélanie, soeben in Sichtweite, auf dem nassen Belag aus und schlägt sich das Knie an. Der Schuldirektor lädt uns zu einem Tee ein, klärt uns über das marokkanische Schulsystem auf. Leider ziehen viele Familien ihre Kinder frühzeitig von der Schule ab. Für die Kinder mit dem weitesten Schulweg habe der Staat acht Velos gespendet. Da es aber unmöglich sei, festzustellen, wer den weitesten Weg hat und man sich nicht einigen konnte, sind die nigelnagelneuen Velos immer noch nicht verteilt worden. Wir fahren danach im Gegenwind weiter bis nach Imdahane. Hier ist das einzige Hotel noch nicht eröffnet. Bauschutt liegt noch herum, wir stolpern über Stromkabel, weder Lampen noch sanitäre Anlagen sind installiert, einzig ein Zimmer ist einigermassen hergerichtet. Duschen müssen wir im Restaurant nebenan. Immerhin sind wir die allerersten Gäste und weihen so das Hotel ein. Am nächsten Tag regnet es. Zeitweise setzen sintflutartige Regengüsse ein. Nach etlichen Kaffees , einem Schwatz mit Simo, dem 24-jährigen Besitzer und der Einsicht, das Velofahren an diesem Tag einer Selbstpeinigung gleichkommt, gehen wir zurück ins Hotel.

Ich nutze die Zeit für einen kleinen Spaziergang im Dorf nebenan, nach meiner Rückkehr fängt es wieder heftig an zu regnen und der erste Tourenfahrer, dem wir hier in Marokko begegnen, Stanislas, ein etwa 50-jähriger Franzose aus Belgien, fährt wie in Trance an mir vorbei. Er ist pflotschnass. Ich rufe ihn herbei und sage ihm, dass es hier in Imdahane, eine etwa 1000-Seelen-Ortschaft, unerwarteterweise ein Hotel gebe. Er ist sichtlich erleichtert, wäre er doch ansonsten weitere 40 Kilometer im Regen und Gegenwind gefahren. Und das um 4 Uhr nachmittags, wenn es um 18 Uhr bereits dunkel ist. Da er keine Beschriftung gesehen habe, sei er einfach weiter gefahren. Seit seiner Pensionierung 2005, als er das Familienunternehmen verkauft habe, unternehme er jedes Jahr 2 bis 3 monatige Velotouren, in die Türkei, nach St. Petersburg, auf der Balkan-Halbinsel. Zelt und Schlafsack habe er nur für den Notfall dabei, er habe es aber nie gebraucht bis anhin und wisse gar nicht, wie man das Zelt aufstelle. Bis jetzt hat er immer ein Hotelzimmer gefunden. In Marokko sei er einmal er vor einer „trentaines d’années“ gewesen, er habe aber keine Erinnerungen mehr daran. Originell finde ich seinen riesigen Stock gegen Hundeattacken, den er griffbereit in einer Hülse an der Vorderradgabel versorgt hat.


Endlich In Marrakesh angekommen, quartieren wir uns in einem kleinen Riad ein. Nachdem wir lange keinen Touristen begegnet sind, wimmelt es hier nur so von Kurzaufenthaltern. Ein Vorteil ist immerhin, dass das Angebot an sauberen und geschmackvoll eingerichteten Unterkünften riesig ist, man die Qual der Wahl und bereits für umgerechnet 20 Franken in einem Riad oder einer maison d‘hôte schlafen kann. Ein Riad ist ein Haus in der Medina, das rings um einen Patio gebaut ist, und heute oft zu Hotels umfunktioniert worden sind, auf der Terrasse kann dann morgens gediegen gefrühstückt werden. Der Riad-Hype hat hier in Marrakesh angefangen und Riads sind mittlerweile überall zu finden, aber insbesondere in der Küstenstadt Essaouira, Fès und eben in Marrakesh. Der Anschlag im April dieses Jahres auf dem Hauptplatz Djema el Fnaa im Café Argana scheint sich übrigens nicht negativ auf den Tourismus ausgewirkt zu haben. Mélanie wird von Marrakech wieder in die Schweiz zurückfliegen. Danke Mélanie für die vier tollen Wochen. Und für die organisatorische und moralische Unterstützung. Ohne Ihre Hilfe wäre ich heute nicht hier.