Senegal

Toubab geniesst Teranga

Bevor ich mich in den nächsten Tagen in Guinea-Bissau auf Portugiesisch zu verständigen versuche, wird es Zeit, um wieder Bericht über meine Reise zu erstatten. Also zurück nach Dakar, wo ich zehn Tage verbringe.

Dakar ist die Hauptstadt Senegals, eine rasch wachsende Grossstadt auf der Cap Vert Halbinsel, dem westlichsten Punkt Afrikas, mit mehr als zwei Millionen Einwohnern und sogar einem Géant Casino mit anständigen Angebot an Käse. Der Versuchung, eine ganze Packung Roquefort mit einer Baguette aufs Mal zu verzehren, kann ich nicht widerstehen.  Ich kann bei Sacha, einem Genfer,  wohnen, der selber Velotouren in Westafrika und im südlichen Afrika unternommen hat und seit acht Jahren in einer Kunstgalerie arbeitet. Zwar hat er seine Wohnung nur noch für wenige Wochen, da er bald nach Bangkok ziehen wird. Dennoch hat er ein Zimmer für mich frei und so nutze ich die Gelegenheit, um mir eine längere Auszeit zu gönnen. Sacha ist unkompliziert, „easy-going“, ein Seelenverwandter und gibt mir gute Tipps für die Weiterreise. Jeredef Sacha !

Am Morgen trinken wir gleich beim Hauseingang jeweils Kaffee auf der Strasse bei einem der zahlreichen Nescafé-Stände: Verkäufer, die eine buntbemalte Tonne, seitlich mit zwei Rädern, oben mit gebogenem Vordach, einen Café au lait mit Schaum mit Hilfe von Kaffe- und Milchpulver zaubern, indem sie das Getränk x-mal von einem Becher in einen anderen schütten  Daneben ein Stand von 1.5 Quadratmetern Grösse, in dem Omelett-Zwiebeln-Sandwichs zubereitet werden, eingewickelt in „papier recupéré“,  Alt- und Zeitungspapier. Völlig normal hier. Auf einer Schadenanzeige einer Motorfahrzeugversicherung, einer Bankvollmacht oder einem seitenlangen gescheiten Elaborat irgendeiner NGO, aus dem man etwa Folgendes in Erfahrung bringen kann: The internal challenge in the Mandara Triangle comes from the Kenyan, Somali and Ethiopian governments‘ inability to adequately address situations that they are confronted with, in this case natural disasters such as drought and flooding. Interessant. Umwelt- geht in Dakar dem Datenschutz vor !

Am Rande vom Kermel-Markt, wo Gemüse, Früchte, Fleisch und Fisch angeboten werden, reihen sich die Maman’s, die in riesigen Töpfen das Morgen- und Mittagessen zubereiten. Thiéboudienne (Fisch mit Reis) ist das Nationalgericht, aber auch Maffé (Lammfleisch an schwerer Palmöl-Erdnusssauce) und Yassa (Fleisch oder Fisch an einer Zitronen-Zwiebelsauce) findet sich hier. Eine Radlerportion für etwa einen Franken. Toll sind hier im Senegal auch die zahlreichen kühlen und süssen Fruchtsäfte:  Bissap (Hibiskus-Sirup), aus Affenbrot oder Thiakry (eine Mischung aus Sauermilch, Couscous und Zucker). Grüne Orangen aus der Casamance, gut zum Pressen und Auslutschen, finden sich überall am Strassenrand. Wie auch Erdnüsse, und viel seltener, da die Saison längst vorbei ist, leckere Cashewnüsse. Insgesamt ist das Essen hier gar nicht so übel, vor allem, wenn es mit einer kühlen Flasche Gazelle-Bier runtergespült wird. Und wer vom Fisch genug hat oder einfach eine deftige Portion Eiweiss und Fett benötigt, der kann sich in einer Dibiterie verköstigen. Ein Fleischstand, in dem Hammelfleisch in groben Stücken grilliert wird, danach mit einem Beil mundgerecht verkleinert auf einem Stück Zementsack, im Idealfall auf Backpapier, mit einigen Scheiben rohen Zwiebeln angerichtet wird. Und beim Essen kann man genüsslich beobachten, wie Ziegen und Schafe, weiter im Süden dann auch Schweine,  in Abfallresten rumstochern.

Der Sandaga-Markt in Dakar ist chaotischer und staubiger. Hier finden sich auch die bunten Wax-Stoffe mit den bunten und lebhaften Mustern. Und Kleider, die in Europa in die Altkleidersammelstelle gegeben wurden. Hier kann ich meine Garderobe vervollständigen und kaufe ein langärmliges Hemd und Shorts. Unweit davon ist das Institut Français, eine kleine Oase inmitten dieser etwas hektischen Stadt.

In der Stadt tummeln sich Verkäufer von Handy-Guthabenkarten, Kokosnüssen. Menschen, die einige wenige Artikel – Ledergürtel, Socken, Unterhosen, einige Jeans –  am Boden ausbreiten. Eindrücklich ist auch ein Spaziergang am Strand in Cambéréne, nördlich der Halbinsel. Hunderte, Tausende von Senegalesen jeden Alters, die hier spazieren, joggen, sich im Nationalsport – der „Lutte“  – versuchen, Fussball spielen, sich auf irgendeine Art und Weise körperlich ertüchtigen. Eine friedliche, gelöste Atmosphäre. Trotz der in wenigen Wochen bevorstehenden Präsidentenwahlen.

Obschon der greise Maître Wade die Verfassung dahingehend ändern liess, wonach die Amtszeit des Präsidenten auf maximal zwei Mandate beschränkt ist, steht es ihm nicht danach, sich als erster danach zu halten und kandidiert prompt ein drittes Mal. Es wird gemunkelt, dass er seinen Freund Youssou N’Dour dazu bewogen haben soll, ebenfalls anzutreten, um den Gegenkandidaten Stimmen wegzunehmen.

 

Ein Pflichtbesuch ist bei der kaum einen Kilometer langen und UNESCO-geschützten Insel  île de Gorée angesagt,  früher ein Zentrum des Sklavenhandels. Heute steht das renovierte Sklavenhaus als Symbol für eine dunkle Epoche der Menschheit. Ich übernachte auf der Insel, um ­­­unbehelligt von den Tagestouristen die 1000-Seelen Ortschaft geniessen zu können, beim Sonnenaufgang auf die Festung zu laufen und den zahlreichen Strassenkünstlern, die bei ihren Ständen übernachten, bei der Morgentoilette zu stören.  Ein gemeinsamer Velo-Ausflug mit Sacha zum 40 Kilometer entfernten Lac Rose und durch den stickig-staubigen und anstrengenden Dakar-Verkehr bildet den Abschluss meines Dakar-Aufenthaltes. Der See, eigentlich Lac Retba genannt, hat seinen Namen wegen seiner rosa Färbung, verursacht durch hohen Salzgehalt und Bakterien. Am Ufer des Lac Rose war früher das Endziel der Rallye Paris-Dakar.

Am Montag breche ich dann endlich auf. Ein letztes Mal ein Nescafé mit einer Omelette-Baguette. Und sobald ich nach rund 30 Kilometern endlich dem Stadtverkehr entflohen bin und durch die ersten Dörfer radle, höre ich wieder die Kinder, wie sie mir auf Wolof „toubab, toubab“ zurufen. Der Weisse, der Weisse ! Wolof hat übrigens jeder von euch schon einmal gehört. Wer’s nicht glaubt, höre hier rein.

Das Mittagessen, Reis mit Fischbällchen, wartet bereits auf mich. Mohammed, ein Arbeitskollege von Sacha, empfängt mich freundlich, zeigt mir den Strand von Yenne, die Küste, wo er sich vor zwanzig Jahren wegen eines Erdrutsches eine offene Fraktur am Bein zugezogen hat. Seither macht er einen grossen Bogen darum. Um vier Uhr breche ich auf, abends treffe ich dann wieder Linda und Peter, ein holländisches Missionarspaar, die ich in der Zebra-Bar kennengelernt habe. Sie unterrichten in einer Schule für die in Senegal ansässigen Missionarskinder. Wegen einer Konferenz herrscht gerade Hochbetrieb, dennoch werde ich sehr wohlwollend aufgenommen, kann einige Kontakte knüpfen und mit vielen Leuten Schweizerdeutsch reden.  Und so geht es praktisch die ganze Woche weiter.  Die Senegalesen nennen es „Teranga“: man steht füreinander da, teilt gemeinsam. „Nous sommes ensembles“, heisst es immer wieder. Genuine Gastfreundschaft.

In Joal-Fadiout, dem Geburtsort von Lépolod Sédar Senghor, Schriftsteller und erster senegalesischer Präsident, interessiert mich die kleine Insel ganz aus Muscheln. Einige Baobabs und ein islamisch-christlich-gemischter Friedhof.  „Nous sommes ensemble“ geben mir die Leute zu verstehen. Auf der Insel Fadiout eine Moschee und eine Kirche. Mit Kirchturm. Und das in einem Land, in dem sich über 90 % der Bevölkerung zum Islam bekennen. Ob es bauliche Beschränkungen gibt, konnte ich nicht in Erfahrung bringen.

Der Islam hat in Senegal eine ganz eigene Ausprägung und ist durch Brüderschaften gekennzeichnet.  Am weitesten verbreitet ist die Muridiyya Sufi-Bruderschaft, deren Mitglieder die Muriden, just in der Woche, als ich Dakar verlasse, anlässlich des Magal nach Touba pilgern. Der Gründer dieser Brüderschaft, der hoch verehrte Ahmadou Bamba Mbacké liegt dort begraben. Die Muriden  haben einen grossen Einfluss auf Wirtschaft und Politik und beherrschen beispielsweise das Transportwesen. Ein Zweig der Muriden sind die Baye Fall, eher eine Lebensform der Wolof als eine Religion. Deren Anhänger sind an den Rastas und den bunten Hosen erkennbar. Bei einem solchen Baye Fall kann ich im Dorf Samba Dia übernachten. Die Ethnie der Wolof stellt in Senegal die Mehrheit dar. Ihre Sprache, ebenfalls das Wolof, wird heute praktisch von allen Volksgruppen gesprochen. Mit der Zeit wird die Angelegenheit unübersichtlich. Da gibt es noch die Toucouleur, die Pulaar reden, und die Fulbe, die Serer, die Mandinké, in der Casamance die Diola.

Unterwegs ist es mir nicht langweilig. Grosse Plakate mit einer lachenden Kleinfamilie und der Aufschrift „espacer les naissances“ ermahnen an das heikle Thema der Familienplanung. Buschfeuer werden gelöscht. Aasgeier kreisen um einen toten Esel. Ein Senegalese hält an, verscheucht die Vögel  und sammelt die Erde, auf denen sie soeben rumgetrampelt sind. Wozu er das tue, frage ich ihn. Mit der Hilfe eines Marabouts verhelfe die Erde zu einem Zauber: so soll bei einem Totschlag der Täter für die Polizei unsichtbar sein. Oder die Erde soll, ausgestreut vor einem Laden, dazu verhelfen, möglichst viele Kunden anzulocken. Auch diese animistischen Züge gehören zum senegalesischen Islam.

Ich fahre zum Siné-Saloum-Delta, fahre durch beeindruckende Palmen- und Baobabwälder, am angeblich grössten Baobab Senegals mit einem Umfang von 32 Metern vorbei. Früher wurden im Baobab die Gebeine der Geschichtenerzähler, der Griots aufbewahrt. Heute hausen Fledermäuse darin, ab und zu gestört durch neugierige Touristen. Mit einer „courrier“-Piroge setze ich auf die kleine Insel Djirnda über. Es ist heiss, die Fahrt dauert zweieinhalb Stunden, entlang an Mangrovenwälder. Ein Paradies für einheimische Tiere und Zugvögel.

Auf der Insel Djirnda steigen keine Touristen ab, ich bin der einzige Weisse und falle entsprechend auf. Dennoch sind die Senegalesen nie aufdringlich. Die Insel liegt inmitten von Mangrovenwäldern, in einiger Entfernung liegt der Friedhof idyllisch inmitten einer Gruppe Baobabs. Ich werde auf der Anlegestelle vom jungen Bijaram empfangen, der Bruder des Senegalesen Madumaj, den ich kurz vor der Abreise kennengelernt habe. „Mach dir keine Sorgen, ich ruf meine Mutter an, du kannst bei ihr schlafen.“  Ein Zimmer ist für mich liebevoll hergerichtet worden, Nachtessen wird mir zubereitet. Vorher will aber die Tradition, dass wir beim Dorfchef vorsprechen, der über meinen Besuch sehr erfreut ist. Sie geben mit zu verstehen, dass ich zu ihnen gehöre. Ich bin beeindruckt. Die Dorfjugend hat sich derweil eingefunden, um den Nachwuchs der Kämpfer des Nationalsports „Lutte“ anzufeuern.

Nach dem Morgenessen begleitet mich die ganze Familie zur „embarcadère“ und verabschiedet mich, als sei ich ein Verwandter. Die Reise geht weiter, zunächst mit der Piroge, danach wieder mit dem Drahtesel. An der senegalisch-gambischen Grenze treffe ich auf ein sehr sympathisches deutsches Radlerpaar, Julianne und Moritz. Wir setzen mit der Fähre auf Banjul, der Hauptstadt von Gambia, über. Ich trenne mich aber sogleich von Ihnen, da ich bei einer Couchsurferin, bzw. deren Kollegin Sue, eine Engländerin im Ruhestand, im Touristenzentrum Kololi drei Nächte bleiben darf. Thanks Sue ! In Gambia, dem kleinsten Staat  Afrikas, wird Englisch gesprochen. Nice, nice ! The Gambia ist langgezogen, 10 bis 50 Kilometer breit und ganz umschlossen von Senegal.

Ich fahre in den südlichen Teil von Senegal, in die Casamance rein. Bis zum Fischerdorf Kafountine.  Dort sind die zahlreichen Öfen, in denen Fische geräuchert werden, am dicken Rauch leicht auszumachen. Schon nach wenigen Minuten brennt der Rauch unerbittlich in den Augen und ich muss in eine „épicerie“ flüchten, um mir Papiertücher zu kaufen. Ich frage mich, wie die Menschen, die allermeisten stammen aus Guinea-Conakry, ihre Arbeit tagtäglich in diesem Qualm ohne jeglichen Schutz zu verrichten imstande sind. Ich laufe fast drei Stunden durch die unwirkliche Szenerie aus Rauch und Licht.

Von Kafountine nehme ich ein Grand Taxi, um schnellstmöglich nach Ziguinchor zu gelangen. Die hundert Kilometer sind durch Militärpräsenz hinreichend gesichert. Allerdings gibt es sporadisch nördlich dieser Strecke im Landesinnern einzelne Schusswechsel zwischen Rebellen und Militär. In Ziguinchor richte ich mich im Camping Casamance ein, der von einem französisch-senegalischen Paar geführt wird. Eine Zweitagestour mit wenig Gepäck führt mich in die Basse Casamance, bereits sehr grün und dichtbewachsen. Zu den Baobabs gesellen sich nun eindrückliche riesige Kapokbäume. Unterwegs besuche ich eine Krokodilfarm. Verschwitzt komme ich in Elinkine an und schaffe es gerade noch auf die Piroge, die zur einsamen Insel von Karabane fährt. Unterwegs verschnupfe ich mich wohl und verordne mir daher zwei Tage Genesung im Camping, auf dem eine familiäre Stimmung herrscht.

Im Camping haben sich Guy und Isabelle mit ihren zwei Zwillingspaaren und ihrem Truck eingerichtet. Das belgische Paar hat jahrelang im Kongo gelebt und muss nun den Papierkram erledigen, um auf den Grimaldi-Frachter nach Angola mitgenommen werden zu können. Cees und Marjan aus den Niederlanden hingegen, mit einem 16-Tönner unterwegs (der pro Liter gerade drei Kilometer schafft…), sind ebenfalls schon seit einiger Zeit hier auf dem Camping. Cees hat fünf Jahre im Sudan gelebt und vertreibt sich die Zeit damit, eine Baumhütte zu konstruieren.


Sahara, Sahel und Senegal

Mittlerweile befinde ich mich im Senegal, wo ich das Gefühl habe, so richtig in Afrika angekommen zu sein, obschon ich ja bereits seit über zweieinhalb Monaten auf afrikanischem Boden rolle. Aber zunächst einmal zurück zur Westsahara.

Nach drei Ruhetagen in dem von Spaniern gegründeten Dakhla, vormals Villa Cisneros genannt, setze ich meine Reise durch die Westsahara, Richtung Süden, fort. Dakhla liegt auf einer Landzunge, ich muss daher 40 Kilometer wieder zurückradeln. Mir ist zwar bewusst, dass ich etwas Gegenwind haben werde, aber dass ich dreieinhalb Stunden für 40 Kilometer brauche, hätte ich nicht gedacht. Und das auf flacher Strecke ! Nachher wird es zwar etwas besser, aber Geschwindigkeiten von 11 bis 15 km/h sind mental nicht gerade erbauend, immerhin sorgen Sand und Wind für ein Dauerpeeling. Und so benötige ich für die 350 Kilometer bis zur Grenze vier Tage.

Ich schlafe bei einer Tankstelle, bei einem „Service de desenseblement“ und sogar bei der Marine Royale. Die kleinen Blockhütten des Militärs, die sich überall entlang der Küste finden, sind alles andere als königlich, sie sehen eher wie erbärmliche Fischerhütten aus. Dafür sind die beiden jungen Rachid und Hassan sehr gastfreundlich. Ich darf neben Ihnen zelten. Beziehungsweise in ihrer selbstkonstruierten, gemütlichen Strandhütte schlafen. Genial ! Den ganzen Tag kämpfe ich schon gegen den Wind, es ist recht heiss, und mir geht die längste Zeit durch den Kopf, dass es an einem solchen Tag sicher entspannendere Freizeit-Aktivitäten gäbe als durch die Westsahara zu radeln. Etwa am Strand liegen, die Kühle des Atlantiks geniessen und Riesenmuscheln sammeln. Das Angebot der zwei jungen Burschen kommt daher wie gerufen. Ohne mit der Wimper zu zucken springe ich rein ins herrlich kühle Nass ! Unterdessen bringt mir Hassan eine Kanne Tee. Ich trockne mich ab, geniesse das süsse Getränk, kühle mein Brausepulver-Getränk in einem Kübel Meerwasser. Die Anstrengung ist vergessen, ich geniesse den einsamen Strand. Das sind die tollen Überraschungen, die man nur auf dem Velo erlebt, denke ich mir. Wir kochen zusammen, verbringen einen lustigen Abend, und um 21 Uhr verziehe ich mich in die Hütte und schlafe bald ein.

Um 1 Uhr nachts klopft es an meiner Hütte. Die beiden Jungs sind auf Patrouille, um die Küste vor illegalen Einwanderern zu kontrollieren. „Ist alles in Ordnung“, rufe ich Ihnen zu. Sie lassen aber nicht locker, ich solle die Türe aufmachen. „Maurizio, nous excusons le dérangement“. Zähneknirschend mache ich auf. In der Dunkelheit, in Uniform und mit Gewehren sehen sie nicht mehr ganz so freundlich aus wie Stunden zuvor. Ich solle die Stirnlampe ausmachen, befehlen sie mir, sie wollen nicht auffallen. „La tente, la tente?“, fragt Rachid ungeduldig. Ich solle es mitnehmen und mit Ihnen zum Strand laufen. „Hey, was soll der Quatsch?“, gebe ich Ihnen zu verstehen. Mir wird etwas bange: wollen die zwei mich jetzt etwa überfallen ? Ich weigere mich und will eine Erklärung. Wegen ihrer mangelhaften Französisch-Kenntnisse brauche ich eine Weile, bis ich ihr Ansinnen durchschaut habe: jetzt seien sie auf Patrouille und nicht mehr als Zivilpersonen unterwegs, sie müssten sich an das Reglement halten. Ich dürfe daher nicht so nahe bei Ihnen schlafen, da es sich um einen militärischen Posten handle. Gleichwohl könne ich in der Strandhütte schlafen, nur müsse ich zunächst das Zelt aufstellen, für den Fall dass Ihr Vorgesetzter vorbeikomme. In diesem Fall müssten wir ihm dann vorgaukeln, dass ich nachts aufgewacht sei und die beiden darum ersucht hätte, in der Strandhütte schlafen zu können, da es draussen – mindestens 20 Grad warm – zu kalt sei. Bravo ! Das hättet ihr mir doch gleich sagen können ! Immerhin haben die beiden keine bösen Absichten und nehmen einzig ihren Job ernst. Um nicht noch einmal gestört zu werden, stelle ich also mein Zelt mitten in der Nacht auf und zügle meine Siebensachen.

Die Ausreise aus Marokko gestaltet sich problemlos. Vier Kilometer Niemandsland liegen zwischen Marokko und Mauretanien. Dem Strassenzustand nach zu urteilen, haben die beiden Staaten kein Wirtschaftsabkommen geschlossen. Eine üble, holprige Sandpiste, die man besser nicht verlässt, denn das Gebiet ist stark vermint. Im Schritttempo kämpfen sich Lastwagen über die miserable Piste mit dem Übernamen „Kandahar“. Ausgebrannte Autos, Wracks, entsorgte Elektronik-Geräte. Allerlei Leute, die auf diesem herren- und staatenlosen Abschnitt krumme Geschäfte drehen und Nummernschilder wechseln.

In Mauretanien fahre ich nach Nouadhibou rein. Die zweitgrösste Stadt Mauretaniens ist ein kleiner Schock. Das Stadtbild wird von Abfallbergen geprägt, in denen Ziegen nach etwas Fressbarem rumstochern. Überall Sand, was nicht weiter verwundert, denn ich bin ja noch in der Sahara. Die ganze Aufmachung der Läden und Geschäfte ist einiges schäbiger als in Marokko. Ein Steinwurf vom Zentrum entfernt fangen bereits die Bidonvilles an.

Mauretanien ist eines der ärmsten Länder der Welt und geniesst, nicht zuletzt wegen Entführungen in entlegenen Gebieten durch die AQM (Al Qaida im Maghreb) und organisierten Banditen, nicht den besten Ruf. In Mauretanien herrscht immer noch eine moderne Form der Sklaverei. Die Bevölkerung ist stark hierarchisch gegliedert: die Elite wird durch die weissen Mauren, den Bidhan gebildet, während die dunkelhäutigen Haratin oftmals Sklaven als Vorfahren haben. Man bekommt das im Land zu spüren, die Leute sind zurückhaltender als in Marokko.

Von Nouadhibou aus fährt der berüchtigte Eisenerzzug ins Landesinnere nach Zouérat. Er ist mit rund zwei Kilometern, 200 Waggons und bis zu vier Lokomotiven einer der längsten und schwersten Züge der Welt. Der Sahara-Sand ist dabei das grösste Hindernis. Entsandungstrupps sind alle Hundert Kilometer stationiert. Der Verschleiss von Geleisen und der Züge ist sechsmal grösser als unter normalen Umständen. Eine Fahrt auf diesem Zug – gratis in einem der Eisenerzzwaggons – muss ein einmaliges und anstrengendes Erlebnis sein und schüttelt alle Knochen richtig durch. Ich verzichte auf die Rüttelparty und fahre zur Hauptstadt weiter.

Auf der Strecke Nouadhibou – Nouakschott passiert man alle 50 bis 80 Kilometer einen Checkpoint der Gendarmerie Nationale. Ich händige jeweils die „fiche de renseignements“ mit meinen persönlichen Daten aus. Die Bevölkerung ist alarmiert und informiert umgehend die Gendarmerie über die Anwesenheit unbekannter Personen, einschliesslich Velofahrern. Beeindruckend. „Bei Kilometer 42 hast Du Tee getrunken, nicht wahr? An der Tankstelle bei Kilometer 67 hast Du eine Cola gekauft ?“ Solche Bemerkungen der Gendarmes sind nichts Aussergewöhnliches. Auch tagsüber sind mobile Einheiten auf Patrouille. Oft halten sie an und erkundigen sich nach meinem Wohlbefinden. Sicherheitshalber zelte ich jeweils bei den Postes de Gendarmerie. Eine andere Wahl habe ich eh nicht, da sie mich am späten Nachmittag bzw. abends nicht mehr weiterfahren lassen.

Die Hauptstadt Nouakchott ist der Inbegriff einer unkontrolliert wachsenden Stadt mit mangelhafter Infrastruktur. 1959 ist die Stadt im Zuge der Unabhängigkeit hastig für 30‘000 Einwohner geplant worden. Heute wohnen bzw. hausen hier mehr als eine Million Menschen, darunter sehr viele landflüchtige Nomaden.

Immerhin gibt es hier eine tolle Herberge, in der man auf viele andere „Overlander“ trifft. So auch auf die zwei Italiener Fabrizio und Paolo, Cousins aus den Abruzzen, ebenfalls mit dem Rad unterwegs. Es sind die ersten „richtigen“ italienischen Tourenfahrer, die ich in den letzten Jahren angetroffen habe. Und auch die ersten mir bekannten Tourenfahrer, die täglich mindestens eine Packung Zigaretten qualmen. Aber auch der Dokumentarfilmer Tommaso Cotronei, der eine Reportage über den Eisenerzzug drehen wird und Ivo, ein anderer 55-jähriger Italiener, haben sich in der Auberge Menata eingefunden. Eine richtige italian connection. Und da Tommaso ein fettes Stück Parmesan mitgenommen hat, nutzen wir die Gelegenheit und kochen feine Pasta.

Nouakchott scheint, obschon nicht sonderlich attraktiv, meine Stadt zu sein: überall sind Mauris zu sehen: Mauritel, Mauriart, Mauritrac, Maurigraph, Maurilab, Mauripressing, Mauricenter. Unglaublich, in welchem Zustand gewisse klapprige und völlig verrostete Autos, die jeden Moment auseinanderfallen zu drohen, hier noch ihren Dienst verrichten. Sehenswert in Nouakchott ist immerhin der Port de Pêche, ein Strandhafen, in dem auf einer Länge von über einen Kilometer die farbigen Fischerboote, die Pirogen, aneinandergereiht werden und nachmittags vom Fischfang zurückkehren. Über Rollen werden die Boote von Hand an Land gezogen. Der Fischfang wird auf Eselskarren verladen und zur Verkaufshalle gebracht. Dieser soll, zumindest für die Einheimischen, in den letzten Jahren zurückgegangen sein. Mauretanien hat vor Jahren der EU ein unbeschränktes Fischfangrecht eingeräumt – für jährlich rund 62 Millionen Euro. Der Fischfang bildet heute die wichtigste Einnahmequelle von Mauretanien.

Von Nouackchott fahren Fabrizio, Paolo und ich zusammen los. Von der Sahara geht es fliessend in die Landschaft der Dornsavanne des Sahel über. Wir übernachten im berüchtigten Grenzort Rosso.“ Ein Ameisenhaufen, aber von denen die stechen“, laut einem professionellen französischen Autoschieber. Wir fahren danach einem Damm entlang bis nach Diama. Eine tolle Etappe, entlang des Senegalflusses und von Sumpfgebieten, eine Brutstätte für viele Zugvögel. Wir befinden uns im Nationalpark Diawling. Und kurz vor der Grenze zu Senegal werden wir zur Kasse gebeten, da wir schliesslich durch den Park gefahren sind. Wenige Minuten vorher weiss ich das noch nicht, als ich für ein Landschaftsfoto anhalte. Ein Toyota Pick-Up hält brüsk vor mir an, ein Gendarm springt raus und ruft mir laut und aggressiv zu, was mir denn einfalle. Es sei strengstens verboten hier zu fotografieren. Er müsse die Kamera beschlagnahmen, ich müsse mitkommen auf das Kommissariat und das käme mir teuer zu stehen. Openair-Theater ohne Zuschauer bzw. Zeugen. Ich brauche einige Momente, bis ich realisiere, dass er seine Rolle gut spielt und muss mir schon fast das Lachen verkneifen. „50 Euro“ wolle er, dann könne ich gehen. Ich bleibe ruhig, entschuldige mich höflich für meinen Faux-pas, meine nur, dass ich weit und breit kein Gebäude, schon gar kein militärisches sehe, das Fotografierverbot daher alles andere als offensichtlich sei, wir schliesslich in einem Nationalpark seien, wo rudelweise Warzenschweine über den Weg laufen und viele Vögel beobachtet werden können. Mindestens drei Mal sei mir ein Rudel Warzenschweine über den Weg gelaufen. Und erst recht die Flamingos. Ob er auch welche gesehen habe, das seien ganz tolle Tiere. Und übrigens habe ich den ganzen Tag kein einziges Schild mit Fotografierverbot gesehen. Kurz: ich labere ihn voll. „30 Euro und ich könne gehen“. Nein, ich offeriere ihm eine halbe Packung Biskuits und bleibe standhaft, bis er von seinem Einschüchterungsversuch loslässt und davonfährt. Schade um den guten Ruf der zahlreichen Gendarmes, die sich stets um meine Sicherheit gekümmert haben.

Senegal ist dann eine angenehme Abwechslung: die Leute sind sehr freundlich und höflich. Die Dörfer sind gepflegter. Der Abfall wird nicht mehr neben den Häusern sondern auf der gegenüberliegenden Strassenseite entsorgt. Wir bleiben einige Tage in St. Louis, dem “Venedig Afrikas”. Genau genommen unweit der Hydrobase, wo in den 30-Jahren die Aéropostale Halt machte. St. Louis ist 1658 von den Franzosen gegründet worden und steht heute unter UNESCO-Schutz. Ich verbringe zwei Tage mit den Brüdern Daouda und Mukhtar, die dem Verein „Espoir des enfants de la rue de St. Louis“ vorstehen. Sie kümmern sich um bettelnde Strassenkinder, um die „talibés“, die hier in städtischen Gebieten sehr häufig zu sehen sind. Die talibés laufen in zerrissenen, dreckigen Kleidern, barfuss, mit Betteleimern umher. Sie sind Opfer einer alten senegalesischen Tradition: jede Familie hat einen Sohn einem „Marabout“, einem Koranlehrer anzuvertrauen, der die Verantwortung übernimmt und ihn den Koran beibringt. Der Marabout hat das Recht, die Kinder für sich arbeiten zu lassen und sie auf die Strasse zum Betteln zu schicken. Bringen sie den geforderten Betrag nicht „heim“, werden sie häufig misshandelt. Heutzutage werden Kinder ganz einfach zum Marabout geschickt, weil die Eltern sie nicht mehr ernähren können. Der Marabout muss sich aber um derart viele Kinder kümmern, dass eine Fürsorge schlicht nicht mehr möglich ist. Der Staat stellt immerhin Häuser, Daara, zur Verfügung.

Daouda und Mukhtar versuchen, erste Hilfe zu leisten, Wunden zu versorgen, die Kinder zu unterrichten und ihnen soweit möglich, Essen und Kleider zu beschaffen. Sie beherbergen auch Ausländer, die während Tagen oder Wochen in den verschiedenen Häuser der Marabouts helfen. Freiwillige Helfer sind bei Ihnen stets willkommen.

Weihnachten verbringen wir einige Kilometer weiter südlich, im Nationalpark Langue de Barbarie. Hier befindet sich ein Campement, die Zebra-Bar. Ein beschaulicher, ruhiger Ort inmitten von Palmen und Akazien, von einem Schweizer Paar vor 15 Jahren gegründet. Man trifft hier auf andere ganz normale Leute, wie etwa die pensionierten Ron und Linda aus England, die mit ihrem Morris Minor, Jahrgang 1953, nach Südafrika unterwegs sind.

Oder Chris und Sue, ebenfalls Engländer, und gleichfalls auf dem Weg nach Südafrika. Sie haben ihren Heissluftballon mitgenommen und fliegen diesen in jedem Land, das sie bereisen. Mit oder ohne behördliche Bewilligung. Entweder landen sie auf den Boden oder im Gefängnis. Beides haben sie schon zur Genüge erlebt.

Silvester werde ich in Dakar verbringen. Bei einem sehr gastfreundlichen Auslandschweizer, Sacha, der ebenfalls viele Velotouren unternommen hat und hier in einer Kunstgalerie arbeitet.

An dieser Stelle sei noch erwähnt, dass aufgrund der Sicherheitslage in Mali – es gab unweit des Pays du Dogon Entführungen Ende November – Helvetas und ich beschlossen haben, den Projektbesuch und die Spenden auf Benin zu verlegen. Ich hoffe, dass dies im Sinne der zahlreichen Spenderinnen und Spender ist, die jedenfalls noch persönlich von Helvetas kontaktiert werden. Ich hoffe auf Euer Verständnis. So, und spätestens jetzt ist Zeit, den Champagner kühlzustellen, um auf ein zufriedenes und erfülltes Jahr 2012 anstossen zu können. Bis bald, Maurizio.