Schweiz

Im Paradies der “cyclo-grimpeurs”

In Lausanne gibt es zunächst einen Empfang durch den Stadtpräsidenten, den Syndic Daniel Brélaz. Von der Korpulenz und seiner Kravatte mit Katzen-Motiv her unverwechselbar. Der Empfang findet auf der Place de Palud statt, Punkt 10 Uhr fängt das Glocken- bzw. Soldatenspiel vor dem Brunnen an, wir warten daher. Obschon Mélanie und ich am Morgen rechtzeitig abfahren, unterschätzen wir etwas die Lausanner Steigungen. Wir schaffen es aber rechtzeitig, Marie von Helvetas wartet bereits auf uns. Der Empfang selber, ganz in der Nähe des Büros von Helvetas in der Rue de la Mercerie, fällt sehr sympathisch, unkompliziert aber dennoch feierlich aus. Ein Glas Waadtländer Weisswein gehört selbstverständlich dazu. Danach gibt es Kaffee im Büro der Helvetas. Danke Marie für die Organisation.

Danach nimmt Mélanie – zum Glück nur für wenige Wochen – Abschied von mir und steigt in den Zug nach Liestal ein. Ich statte den ehemaligen Lausanner Arbeitskollegen im Schadendienst noch einen kurzen Besuch ab. Um 14.30 dann endlich los Richtung Genf, wo ich eine Kollegin aus der Kunstgewerbeschule treffe. Ich habe sie seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen und es die Gelegenheit, kurz ein, fast zwei Jahrzehnte Revue zu passieren. Brigitte, merci beaucoup pour l’accueil sympa !

Kurz vor Veyrier sorgt ein Helvetas-Plakat für zwei Begegnungen. Als ich mein Velo vor dem Plakat ablichten möchte, grüsst mich ein Afrikaner, in rasanter Fahrt mit einem Kickboard etwas zu und zeigt auf das Plakat. „Yeahhh, je trouve ça bien ça, super !“. Ich frage ihn, woher er stamme. Aus Benin. Ja, dahin will ich hin. Er ist völlig aus dem Häuschen, schüttelt mir die Hand, kann es kaum glauben, gibt mir die Adresse seiner Tante in Cocotomé, was soviel heissen soll: Wald voller Kokosbäume. Ein Marokkaner auf einer Harley mit cooler Sonnenbrille und glitzerndem Helm fragt mich danach ganz scheu, ob ich Profifotograf sei. „Nein, wieso ?“ Er wolle seinem Sohn gerne ein Foto von sich und seiner Harley schenken. Vor dem Helvetas-Plakat posiert er trotzdem gerne für mich. Shukran !

Östlich von Annecy werde ich nächstentags von Jan und Jan erwartet. Ich habe sie 2006 in Kirgistan kurz vor der Grenze zu China nach dem Irkeshtam-Pass kennengelernt. Wir sind danach zusammen mit einem belgischen Paar nach Kashgar gefahren. Und seither haben wir den Kontakt aufrecht erhalten und sind in der Schweiz ein paar Alpenpässe und letztes Jahr von Amsterdam in die Schweiz gefahren. Sie sind soeben von einer über sechsmonatigen Velotour in Südostasien, China und der Mongolei zurückgekehrt (www.bikehiker.com) und eskortieren mich nun noch eine Weile, bevor sie sich in der Genfersee-Region niederlassen.

Um einen Monat lang einem Sprachunterricht in Annecy besuchen zu können, haben sie ein Appartement in Thônes gemietet. Die Besitzer, Laurent und Nadia, laden uns spontan ein, bei Ihnen zu übernachten. Wunderbar ! Die Nachbarn Thierry und Bernadette werden auch eingeladen und weitere Gäste kommen hinzu. Ein Barbecue mit viel Fleisch und ein Tisch voller Salate ist das Richtige, um in Form zu kommen. Laurent und Nadia leben in Thônes in einem sanft renovierten Bauernhaus, vermieten zwei niedliche Gästezimmer (www. gite-belfer.com), kennen sich in der Honigproduktion, Herstellung von Poterie und dem Pilzesammeln bestens aus und haben eine gesunde Lebenseinstellung.

Danach starten wir zu Dritt und nehmen wohlgenährt und gestärkt die ersten Hügel der Haute-Savoie in Angriff. Zunächst ein paar unbekannte und kaum grösser als den Chilchzimmersattel im Baselbiet, den Col de Marais, den Col de l’Epine. In Albertville, bekannt durch die Olympia-Winterspiele 1992, machen wir kurz Halt. Danach Camping im Tal. Am nächsten Tag dann der erste grosse Anstieg. Kräftezehrende 1’600 Höhenmeter mit vollbeladenem Velo. Aber wir schaffen es bis zum Col de la Madeleine auf 2’000 Metern. Und Jan verflucht all die Motorradfahrer. Nach einem selbstgekochtem Espresso, Käse und Brot geht es wieder runter. Um die Felgen zu schonen, halte ich vier, fünf Mal an und kühle sie mit Wasser ab.

Heute hatten wir einen Ruhetag. Oder auch nicht. Schuld daran war WiFi im Camping. Der moderne Reisende meint, alles im Vornherein organisieren zu müssen. Und so bleiben wir etwas zu lange im Netz hängen. 20 Kilometer fahren wir dennoch bis zur „La Maurienne, le plus grand domaine cyclable du monde“, wie für diese Stadt ganz unbescheiden Stadt Werbung betrieben wird: Saint-Jean de la Maurienne , dem „paradis des cyclo-grimpeurs“. So lange wie der Name sind auch die Alpenpässe, die von hier starten: Col de la Croix de Fer, Alpe d’Huez, Col du Galibier, Col du Télégraphe, Col de l’Iséran. Unverkennbar, dass diese Stadt eng mit der Tour de France und dem Velosport verbunden ist.

Überall Velos. Vor allem Rennvelos. Als Velo-Toureros sind wir hier eher die Ausnahme. In einem etwas in die Jahre geratenen Veloladen, „Cycles Solaro“, fallen mir handgemachte Laufräder auf. Die Speichen sind gebunden aber nicht gelötet. Alle würden löten, nur er könne dank spezieller Technik ohne Löten binden. Meine Aussage, wonach heutzutage handgemachte Laufräder mit gebundenen Speichen eine Rarität seien,  kommt nicht ganz an. Trotzdem zeigt uns Tonda Louis stolz seine Werkstatt, sein selbst konstruiertes Rennrad fürs Zeitfahren, ein Foto mit persönlicher Widmung von Jacques Anquetil, einer Ikone der Tour aus den Sechziger-Jahren. Seit 65 Jahren fahre er Rad. Und heute morgen sei er auch unterwegs gewesen, mit einem 38er-Schnitt, allerdings sei es ein bisschen windig gewesen. Jan packt die Gelegenheit beim Schopf und lässt sein ausgeleiertes Tretlager auswechseln.  Mal schauen, wo wir überall das neue ausprobieren werden. Bis dann !


Ein heisser Start

Bezogen auf die Temperaturen. Sicher eine gute Einstimmung auf den heissen Kontinent. Aber schweisstreibend und anstrengend. Und wie vor über fünf Jahren, als ich mit dem Velo nach Tibet aufbrach, wurde mir auf dem Anstieg von Rothenfluh nach Anwil bange. “Mamma mia, wie will ich das bloss schaffen ?” Das Gepäck fühlt sich tonnenschwer an. Die Hitze, auf welche die Schweiz seit längerem gewartet hat, ist erbarmungslos. Am liebsten würde ich bloss mit einer Unterhose reisen.

Die letzten Wochen waren mit Wohnungsauflösung, letzten Vorbereitungen, Abschieds-Grillfest und Abschied nehmen intensiv. Zum Glück reichte es wenige Tage vor der Abfahrt doch noch zu einer “gemütlichen” Ausfahrt mit dem Rennvelo zusammen mit Andy. Ueber  1’000 Höhenmeter trieb er mich durch das Baselbiet und am Schluss gab es noch Hochprozentiges: der 20 % Anstieg von Eptingen nach Läufelfingen. Danke, Andy !

Mélanie, die mich bis nach Lausanne begleitet, ist nicht traurig darüber, dass wir die erste Woche gemütlich angehen. Trotzdem wird es fast 11 Uhr, als wir am Montag, dem 22.8.2011 von einem engen Kreis von Freunden und meiner Mutter vor dem Brunnen auf dem Zeughausplatz starten. Nach über 1’000 Höhenmetern und etwa 8 Litern Wasserverbrauch pro Kopf kommen Mélanie und ich endlich in Zürich an. Gabriela, die Freundin von Beat, empfängt uns sehr herzlich und bereitet uns ein feines Znacht vor. Beat habe ich in Kashgar während meiner Tibet-Reise kennengelernt. Als einziger Radler von all denen, die sich im Chini Bagh Hotel eingefunden hatten, fuhr er nicht nach Tibet sondern nach Pakistan über den Karakorum Highway ( Hier geht es zu seiner Seite). Vor wenigen Tagen ist er in die Staaten gereist, um sich auf den Iron-Man Hawaii vorzubereiten. Beat, Dir viel Erfolg und vielen Dank für die tolle Gastfreundschaft an Dich, liebe Gabriela !

In Zürich bereitet Helvetas mir einen warmen und herzlichen Empfang vor. Helvetas Geschäftsführer Melchior Lengsfeld und Stadtrat Daniel Leupi halten eine kurze und bewegende Rede. Daniel Leupi eskortiert mich sodann bis zum Central-Platz. Hier geht es zum Newsletter von Helvetas.

Nun, die heissen Sommertemperaturen geben danach die Route vor. Wir lassen vom Vorhaben ab, noch einige Alpenpässe einzubauen. Was sich als vernünftig herausstellt, denn ich will es nach meinem Unfall vor drei Monaten ohnehin langsam angehen. Alles zu seiner Zeit. Zunächst also in die Kühle des Sihlwaldes, wo die erste Camping-Übernachtung ansteht. Und gleich die Feuertaufe für mein neues Zelt, denn abends beim wohlverdienten Bier fängt es heftig an zu gewittern. Danach suchen wir stets die Nähe von Seen auf, um im Bedarfsfall eine Abkühlung zu nehmen.

Gelegenheit, um auf mein Vorhaben und mein Spendenprojekt mit Helvetas aufmerksam zu machen, gibt es ebenfalls. In Zug an einem Kiosk am Strand lacht mich beispielsweise ein rotes Portemonnaie auf einer Sitzbank an. Jemand hat es ganz offensichtlich liegengelassen. Mit Hilfe eines Passanten und dessen Iphone finden wir rasch die Telefonnummer heraus. Die gute Frau weiss zu jenem Zeitpunkt noch gar nicht, dass ihr die Brieftasche abhanden gekommen ist. Als Finderlohn bedinge ich mir nicht etwa eine Zuger Kirschtorte per express nach Ougadougo – zu gegebener Zeit – heraus, sondern “Tilgung durch Leistung an einen Dritten”, sprich durch eine Spende an Helvetas. Besten Dank, Frau S. !

Dass Wasser lebenswichtig ist aber auch seine Tücken haben kann, finden wir am Thunersee heraus. Kurz vor Spiez halte ich es nicht mehr aus. Kurzerhand parke ich mein Velo auf dem Rasen, klettere zwei Meter die grossen Steine runter und springe nackt in den See. Mélanie will mich abfotografieren. Ihren Drahtesel hat sie dabei etwas zu nahe am Rand des Rasens geparkt, der Ständer versinkt im weichen Boden und das ganze Velo mitsamt Packtaschen dreht sich auf die Seeseite und fällt ins kühle Nass. Im Adamskostüm versuche ich zu verhindern, dass das Velo ganz ins Wasser fällt und schreie, da Mélanie ohnehin die Kamera in der Hand hält: “Schiess ein Bild, mach schon !” “Nein, nein, retten wir zuerst das Velo !”.

Von Spiez geht es weiter Richtung Simmental und Diemtig, dort wo der Schwingerkönig Kilian Wenger beheimatet ist. Endlich dann ein erstes Höhentraining. Der Jaunpass mit rund 1’500 Metern steht uns bevor. Das Wetter hat umgeschlagen, oben auf dem Pass ist es 11 Grad kalt. Anstatt einer erfrischenden Glace gibt es deshalb eine heisse Gulasch-Suppe. Von Bulle bis nach Lausanne stehen wieder einige Höhenmeter an. Doch das Training der letzten Tage macht sich langsam bemerkbar und trotz etwas Müdigkeit kommen wir bei Sonnenschein in Lausanne an. Hier können wir bei Marc-Olivier, einem Freund von Vincent, übernachten. Nach der wohlverdienten Dusche improvisieren wir einen Teller Pasta.


Es geht immer noch weiter…

Zum Glück. Denn ich hatte sehr aufmerksame Schutzengel. Was man drei Monate vor der Abreise am wenigsten braucht, ist ein böser Velounfall. Samstag, 21.5.2011, blendendes Wetter, ideal für eine Ausfahrt mit dem Renner über den Passwang. Die Autofahrer scheinen an diesem Samstag etwas zu spinnen, zwei Mal werde ich in einem Kreisverkehr fast abgeschossen. Beim dritten Mal könnte es schiefgehen, geht es mir einen Sekundenbruchteil durch den Kopf.  Auf der Passhöhe hole ich einen anderen Velofahrer ein, wir tauschen einige Worte aus, ich kontrolliere, dass mein Helm gut angezogen ist, nach den Serpentinen warte ich auf ihn, wir fahren für kurze Zeit nebeneinander, bis ich merke, wie von hinten ein Schatten auftaucht. Ich beschleunige auf ca. 45 km/h, der andere Velofahrer reiht sich im Windschatten hinter mir ein. Die Strasse ist leicht abschüssig. Der Jeep mit Pferdeanhänger überholt uns dann langsam, einige Meter vor mir schwenkt er langsam wieder auf die rechte Seite der Fahrbahn ein. Ich denke mir: “Der hat den Überholvorgang beendet, die Luft ist rein”.

Dann geht alles sehr schnell, nur ganz wenige Sekunden vergehen. Weder der hinter mir fahrende Velofahrer noch ich sehen je die Blink- oder Bremslichter leuchten. Und tatsächlich geht der Idiot voll auf die Bremse. Der Kollege hinter mir hat die Lunte geruchen, kann noch rechtzeitig bremsen, ruft mir “Pass auf !” zu. Trotz Notbremsung realisiere ich, dass ich sogleich zum Dummy mutieren werde, kann den Kopf noch einziehen, und knalle mit der Vorderkante des Helmes voll in den Anhänger rein. Ich schlage beide Knie auf, instinktiv lasse ich den Lenker los und versuche mit beiden Händen nach irgendetwas am Anhänger zu greifen. Nach einigen Metern kommt dann der Bauer zum Stillstand und ich falle zu Boden. Der Bauer kümmert sich zunächst um seinen Schafsbock hinten im Anhänger, der es überlebt hat, ich auch zum Glück. Mein Gesicht fühlt sich warm an, ist blutüberströmt. Der Nacken tut weh. Mir ist klar: wenn ich mir jetzt was gebrochen habe, werde ich dieses Jahr nicht mehr starten können. Im Spital werde ich in die Röhre geschickt. Nach Analyse der Computertomographie dann endlich Entwarnung: weder am Schädel noch an der Halswirbelsäule etwas gebrochen. Puuuuuuhhhh !!! Der Bauer hat nun eine Strafanzeige am Hals und tut sich keinen Gefallen, als er dem Polizist gegenüber äussert, dass er ja am arbeiten sei und wir (die beiden Velofahrer) Freizeit hätten und  daher besser aufpassen müssten. Eigenartige Logik.

Das Velotraining konnte ich erst vor Kurzem wieder aufnehmen. Physiotherapie und Krafttraining sind jetzt angesagt. Es geht mir aber wieder schon sehr gut und ich kann den Hals praktisch beschwerdefrei wieder bewegen. Die Vorbereitungen laufen ansonsten auf Hochtouren. Reiseinfos sammeln, Homepage auf Vordermann bringen, Gespräche und Kontakte mit Helvetas, Partnern,  Sponsoren und Medien. Die Ausrüstung ist fast komplett. Vieles konnte ich beim Outdoor-Laden “Landweg” in Bubendorf beziehen, der mich während dieser Reise sponsert. Das neue Material habe ich teilweise bereits getestet (um danach sofort die Veloschuhe gegen ein anderes Fabrikat einzutauschen).  Zusammen mit Wolfgang, einem Radlerkollegen, den ich letztes Jahr in Norwegen kennengelernt habe und der einen Extrabogen gemacht hat, um mich vor der Abreise nochmals zu sehen, kurven wir fachsimpelnd zwei Tage in den Freibergen des Jura umherum. Unsere Erkenntnisse: wir wissen, woher Didier Cuche stammt und in welcher Käserei 18 Monate alter Gruyère gekauft werden kann.

Nachdem ich einige Tage Strand und Sonne mit Mélanie genossen habe, werde ich diese Woche die Wohnung auflösen. Tja, und dann sind die Tage gezählt bis zur Abreise Ende August.

 


Es geht weiter…

Ich werde auf dieser Homepage über meine neue Reise nach Afrika, die Vorbereitungen dazu und das Spendenprojekt mit HELVETAS berichten.

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Einige Eindrücke aus der Afro-Pfingsten in Winterthur: