Sahara-Express
Am 8. November ist die Zeit gekommen, mich von Mélanie zu verabschieden. Am Morgen machen wir im Souk wie Obdachlose Jagd auf Riesenkartons, um das Velo flugtauglich verpacken zu können. Ich begleite Mélanie zum Flughafen und nach einem tränenreichen Abschied fahre ich mit dem Taxi alleine zurück ins Riad. Ich esse noch einmal auf dem Hauptplatz Djema el Fnaa, wo sich Schlangenbeschwörer, Henna-Zeichnerinnen, Orangensaft-Verkäufer, Imbissbuden, Schnecken-Stände, Musikanten, Einheimische und Touristen ein Stelldichein geben. Am nächsten Tag nichts wie weg Richtung Hoher Atlas. In der charmanten Jugendherberge in Asni, die noch wie genau vor fünfzig Jahren aussieht, spartanisch aber zweckdienlich, mache ich Halt. Und halte ein langes Schwätzchen mit dem Sohn des Jugi-Betreibers. Er geniesst hier oben die Ruhe und die Kühle, den Olivenhain hinter der Jugi, amüsiert sich über das französische Paar, das auf Trekkingtour ist, sich dafür eigens einen Esel gekauft haben und nun bis am Samstag warten müssen, um im Souk Heu zu kaufen. Er hat wegen dem Fest Aïd el Kebir ein paar Tage frei und erholt sich von seinem Job im teuersten Hotel in Marrakech, wo nicht tausend und eine sondern eine einzige Nacht über 1‘000 Dollar kostet. Die fehlende Dusche bei Billighotels, in denen man ab 3 oder 4 Euros ein einigermassen anständiges Zimmer bekommt, ist nicht notwendig ein Manko. Denn meistens gibt es in der Nähe ein Hammam, wo man sich gut waschen und entspannen kann. So auch in Asni. Ab 18 Uhr sei für Männer geöffnet, die beste Zeit, um sich dort in Ruhe zu schrubben und zu waschen, meint ein Einheimischer. Wenn nicht gerade Aïd el Kebir wäre und überall der Brauch herrscht, dass Horden von Jungen mit schwarz angemalten Gesichtern und eingekleidet in schwarzen Schaffellen durch Dörfer ziehen und Geld für das Fest sammeln. Und sich danach im Hammam wieder reinmachen und ein Affentheater veranstalten. Aber amüsant ist es allemal. So oft es geht, suche ich ein Hammam auf. Man schnappt sich zwei Kübel, füllt heisses und kaltes Wasser rein und hält sich je nach Lust und Laune in einem der drei verschieden heiss-feuchten Räumen auf, schwitzt, seift und schrubbt sich ein und begiesst sich nach Belieben mit heissem, warmem oder kaltem Wasser.
Von Asni aus ist es nicht mehr weit bis zum Djebel Toubkal, mit 4‘177 Metern der höchste Berg Nordafrikas. Ich lasse ihn aus, zumal ich ihn bereits vor drei Jahren bestiegen habe. Besteigung ist stark übertrieben, denn es handelt sich, zumindest aus schweizerischer Sicht, um eine normale zweitägige Bergwanderung ohne Schwierigkeiten.
Die Passstrasse Tizi’n Test auf 2‘092 Metern hingegen ist, aus radfahrerischer Sicht, sehr spektakulär und die Berge des Hohen Atlas ringsherum sensationell. Auch die Abfahrt Richtung Süden ist vom Feinsten, nicht sehr steil und sehr langgezogen. Runter bis nach Taroudannt, eine angenehme Stadt um sich einen Tag zu erholen und die „tanneries“, die Ledergerbereien zu besuchen. Es ist nicht viel los, die ganze Woche wird schliesslich gefeiert. Aber es sind bereits unzählige Schafsfelle hergebracht worden, die bearbeitet werden wollen.
Agadir lasse ich aus und nehme den direkten Weg nach Tiznit. Hier muss ich mich unzählige Male durchfragen, denn einige Strassen sind auf meiner Karte nicht bzw. nicht richtig eingezeichnet. Praktisch kein Verkehr, ausser einigen mauretanischen Pantherschildkröten, die mir über die Strasse laufen und gehörig anfauchen, als ich sie anfassen möchte. Auch die Landschaft fängt langsam an, steppen- und wüstenhafter zu werden. Als ich am Abend durch landwirtschaftliches Gebiet fahre, frage ich Einheimische, ob ich hinter ihrem Haus mein Zelt aufschlagen könne. Sicher doch. Ein Teppich wird vor meinem Zelt ausgebreitet und als ich soeben meinen Riesenpfanne Pasta fertig gegessen und abgewaschen habe, kommt Abdullah, von Beruf Schulbus-Chauffeur, und grilliert vor meinem Zelt noch Schaffleisch-Brochettes, die wir dann gemeinsam im Schulbus bei einer Runde Tee essen. Und so komme auch ich noch in den Genuss von einem Aïd el Kebir-Schaf. Stolz zeigt er mir seine 7 Monate junge Tochter Jasmin. Am nächsten Morgen ist er sehr früh schon weg, um die Schulkinder einzusammeln. Dafür leistet mir sein Vater Gesellschaft beim Morgenessen mit frisch gebackenem Brot, Konfitüre und Früchten.
Auf der Hauptstrasse Agadir-Tiznit herrscht viel Verkehr. Einige tote Ziegen am Strassenrand. Und sogar ein richtig grosses Wildschwein. Erst im Nachhinein wird mir bewusst, dass der Anblick eines Schweines ja eher selten in einem muslimischen Land ist. Spontan entscheide ich, einen Umweg über die Küste zu nehmen und nach Sidi Ifni zu fahren. Es liegt zwar eine Hügelkette dazwischen, die Anstrengung zahlt sich aber allemal aus. Sidi Ifni ist ein sehr angenehmer Ort, um sich zu entspannen, die Seele etwas baumeln zu lassen und nochmals Kräfte zu tanken. Die Stadt ist in den 1930ern von den Spaniern auf einem Felsen ganz im Art Deco Stil gegründet worden. Vorher lebte dort überhaupt niemand. Die Spanier besassen diesen Flecken Land bereits von 1476 bis 1524, als der Ort noch Santa Cruz del Mar Pequeño hiess. Sie wurden dann vertrieben und sicherten sich die Herrschaft erst wieder 1860 im Abkommen von Tetouan.
Die Stadt versprüht einen ganz eigenen Charme und ist untypisch marokkanisch, sehr relaxt, beliebt bei Surfern, gutes Essen, guter Kaffee. Keine engen Souks. Der alte Flugplatz zieht nach wie vor einen Strich durch die Stadt und wird alljährlich für ein grosses Fest gebraucht, um den Weggang der Spanier im Jahre 1969 zu feiern. Es scheint mir aber, dass wenige Marokkaner Groll gegen die Spanier hegen. Im Gegenteil: in vielen Läden hängen F.C. Barcelona Flaggen und die Spiele der spanischen Liga werden eifrig in Cafés und Restaurants verfolgt. Und natürlich träumen viele von Spanien und Europa.
Einige Gebäude, wie der Twist Club oder das spanische Konsulat, sind am Verfallen. Andere wurden restauriert. Das älteste Hotel der Stadt, „La Suerte Loca“ – Das Wahnsinnsglück, gibt es nach wie vor und dort komme ich unter. Ein Wahnsinnzufall ist es dann abends, als ich in der Stadt rumspaziere und auf Freunde aus der Schweiz treffe. Unglaublich: Fotograf Andreas Kramer und seine Freundin Karin, die mir 2006 auf dem Pamir Highway in Tajikistan auf dem Velo begegnet sind, laufen an mir vorbei. Wer an meinem Diavortrag in Liestal in der Aula Burg anwesend war, mag sich vielleicht an ihn erinnern, da er einleitend eine kurze Rede gehalten hat. Diesmal sind sie mit ihrem neu umgebauten Landrover für vier Wochen in Marokko unterwegs.
Am nächsten Tag machen wir natürlich zum Morgenessen ab und fahren zur Legzira Beach, wo zwei eindrückliche Bögen den Strand zieren und Paraglidern als Kulisse für ihre waghalsigen Manöver dienen. Was für eine tolle Überraschung! Vor einem Jahr haben wir in Basel an der Herbstmesse noch Bratwürste gegessen, jetzt sitzen wir in der Sonne und verzehren Salami und Schweizer Käse !
Eine Wahnsinnsfreude bereite ich ungewollt dem pensionierten Julio Anton, den ich in Spanien eines Morgens in der einzigen Bar von Manzaneruela kennengelernt habe. Endlich komme ich dazu, ihm das versprochene Foto von der boccadillo-essenden und chupito-trinkenden Männerrunde zu schicken und sende ihm nebenbei Grüsse aus Sidi Ifni. Postwendend schreibt er mir zurück, dass ich ihm soeben eine Riesenfreude bereitet habe, weniger wegen des Fotos, sondern weil ich mich gerade aus dem Ort melde, in dem er 1959 als junger Bursche in einem Amphibienfahrzeug gestrandet ist und seinen Militärdienst absolviert hat. Er zählt mir einige Orte auf, die ihm noch bestens bekannt sind, unter anderem auch „La Suerte Loca“…
Mit neuen Kräften starte ich Richtung Guelmim und West-Sahara. 1‘300 Kilometer Wüste. In der Vorstellung sieht das so aus: meterhohe Dünen, durch die man sich mehr schiebend als fahrend durch sandige Pisten durchkämpft und Sandstürmen trotzt. Zum Glück sieht die Wirklichkeit nüchterner aus: eine mehr oder weniger pfeiffengerade, gut asphaltierte Strecke, durch eine steinige, öde und karge Landschaft. Outback-mässig. Hier und da ein paar Büsche, um gerade noch das Zelt verstecken zu können. Eher selten Dünen. Einmal sogar eine alleinstehende grosse Sicheldüne. Häufig führt die Strasse nahe am Rande der Küste, die schroff um rund 50 Meter hinunterfällt. Ein böser Unfall: eine Frontalkollision zwischen einem Kleinlaster und einem Mercedes-Taxi. Vereinzelt Zelte von Fischern. Dann und wann Kamel- bzw Dromedarherden. Und Heiterkeitsanfälle, wenn man von einem Landrover mit 4 (in Worten: vier) Kamelen auf der Ladefläche überholt wird. Und es geht doch ! Aufschlussreiche Erkenntnisse, wenn der Wind den Sand aufwirbelt: bestreicht man sein Brot mit Schmelzkäse und isst es nicht sofort auf, hat man ein plötzlich ein Sand-Wich.
Strecken von 100 bis 140 Kilometer ohne Versorgungsmöglichkeiten. Ab und zu eine langersehnte Tankstelle mit Café und kleinem Laden. Aber auch einige grössere Städte mit allen Annehmlichkeiten. Insgesamt also mit ein bisschen Planung gut zu befahren. Und zudem soll meistens ein Nordwind, d.h. ein kräftiger Rückenwind blasen. Ich bin gespannt und traue der Sache nicht ganz. Am Anfang sieht es noch nicht sehr danach aus, im Gegenteil, ich habe eher Seiten- bzw. leichten Gegenwind. Besser gesagt wir. Denn ich treffe auf Jeff, einem Australier um die 50, der von Stockholm nach Dakar fährt und Richard, einem 22-jährigen Schweizer, der das gleiche Ziel anpeilt. Beide radeln seit Barcelona zusammen.
In Laayoune, der grössten Stadt in der Westsahara, legen wir einen Ruhetag ein. Unterwegs begegnen wir einem anderen, wegen seinen vielen Afrika-Eindrücken sichtlich mitteilungsbedürftigem Tourenfahrer, der von Südafrika gestartet ist und sogar durch den Kongo geradelt ist. Zufällig ist er wie Jeff auch Australier, auch aus Sydney und auch aus der Cleveland Street. So klein ist manchmal die Welt.
Auffallend ist in Laayoune die Vielzahl der weissen mit UN beschrifteten Jeeps. UN peacekeeper, die hier seit 1991 stationiert sind, als sich Marokko und die Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario auf einen Waffenstillstand geeinigt haben. Ziel des Frente para la Liberación de Seguiat el Hamra y Rio de Oro (Polisario) war die Unabhängigkeit der spanischen Kolonien „Rio de Oro“ mit der Kapitale Villa Cisneros (heute Dakhla) und „Seguiat el Hamra“ mit dem Hauptort Laayoune. Bereits 1966 erliessen die Vereinten Nationen eine Resolution, wonach Spanien eine Abstimmung über die Unabhängigkeit in der Sahara durchzuführen habe. Die arabischstämmigen Saharawis kamen aber vom Regen in die Traufe: der marokkanische König Hassan II organisierte la „marche verte“ und liess 350‘000 Marokkaner (und Soldaten) in die Westsahara einmarschieren und teilte sich mit Mauretanien den Kuchen in einem Abkommen, obschon auch Den Haag das Selbstbestimmungsrecht der Saharawis feststellte. 1976 gründete der Frente Polisario einen eigenen Staat, der von der Afrikanischen Union anerkannt wurde. Viele Saharawis flohen im Zuge der Auseinandersetzungen nach Algerien, wo sie noch heute unter prekären Bedingungen in einem Flüchtlingscamp mit über 200‘000 Menschen leben. Mit einem solchen Saharawi (natürlich nicht der auf dem Bild hier unten), die das Hassani, einem arabischen Dialekt sprechen, komme ich in einer Tankstelle kurz ins Gespräch: er zeigt mir seinen algerischen Pass. Um nach Boujdour zu reisen, muss er einen Umweg über Mauretanien machen, dort den Eisenerzzug nehmen. Kurz darauf verschwindet er in den Bus, der weiterfährt.
Um Fakten zu schaffen, bauen die Marokkaner entlang der Strasse kleine Siedlungen, die aber meist leer stehen. In einer solchen will ich die Arbeiter fragen, ob ich zelten könne. Einer spricht mich auf Italienisch an: „Ueglio, e tu che ci fai qui?“ Er hat lange in Italien gearbeitet. Ich darf dann sogleich in einer leerstehenden Wohnung schlafen. Ein Haus ist sogar mit „Centre de santé de soins de base“ beschriftet. Ob es je eröffnet wird, ist sehr fraglich. Gesellschaft leisten mir fünf weisse putzige Welpen. Die Mutter sei seit vier Tagen verschwunden, meint der „chef de chantier“, der mir Nektarinen, Äpfel und Datteln schenkt. Ich spende den süssen Welpen meine Wurst, wohlwissend, dass sie kaum eine grosse Chance haben werden, zu überleben. Die Mutter liegt drei Kilometer weiter vorne tot im Strassengraben.
Endlich. Nach Tarfaya, als die Strasse von Westen nach Süden abknickt, kommen Hochgefühle auf. Mit Geschwindigkeiten von 30 bis 40 Km/h blitzen wir durch die Ebene. Ich fühle mich wie auf dem Rennvelo, einfach ge…, genial. Es gelingt mir, an diesem Tag fast 200 Kilometer zu fahren. Aviatik-Interessierten mag Tarfaya unter dem Namen Cap Juby besser bekannt sein. Alljährlich macht hier im Oktober die „Rallye Aérien“, die von Toulose nach Dakar führt, Halt. Tarfaya war eine Station für die Flugpost nach Südamerika und hier war auch einige Jahre der Pilot und Schriftsteller Antoine de St. Exupéry, Autor des weltweit beliebten Kinderbuches „Le Petit Prince“, stationiert. Eingepfercht in seinem kleinen Büro hatte er genügend Zeit, um seine Erzählungen niederzuschreiben. Wenn er nicht gerade mit Saharawis über das Lösegeld für die in der Wüste abgestürzten Flugpiloten am Verhandeln war. Ein kleines Museum der „Association des Amis de Tarfaya * Mussée Antoin de S. experey“ (sic!) mit vielen Informationen lädt zu einer willkommenen Auszeit ein, um in die Geschichte des Flugpostverkehrs einzutauchen.
Nach dieser langen Etappe, auf der ich mich von meinen Reisekumpanen verabschiede, ist mit Rückenwind dann auch schon Schluss, Wolken ziehen auf, sogar einige Regentropfen fallen vom Himmel und der Wind bläst mir ins Gesicht. In der gleichen Zeit wie am Vortag, aber mit viel mehr Anstrengung, schaffe ich es nur noch auf 120 Kilometer. Erst vor Dakhla stimmen Fahrt- und Windrichtung wieder überein. Hier in der Westsahara die Temperaturen erträglich. Am Morgen kühle 15 Grad, am Nachmittag um die 25 bis 30 Grad. In Dakhla werden aus einem Ruhetag drei, ich brauche Zeit, um die Weiterreise zu planen und einfach einmal ein Buch in die Hand nehmen zu können, einen Moment innezuhalten. Der Angestellte im Hotel ist übrigens in Sidi Ifni aufgewachsen, neben dem “La Suerte Loca”…Noch sind es 350 Kilometer bis zur mauretanischen Grenze.
Noch ein bisschen Werbung in eigener Sache. Zum Glück bekomme ich vom ganzen Weihnachtsrummel nicht viel mit, der in Europa wohl in vollem Gange ist. Wer den Menschen in Mali ein Geschenk machen will, damit dort ein Dorfbrunnen gebaut werden kann und diese Zugang zu etwas für uns so Selbstverständlichem aber Lebensnotwendigem wie Wasser bekommen, kann gerne spenden. Jede Spende, mag sie auch noch so klein und symbolisch sein, freut mich und noch mehr die Nutzniesser ungeheuer. Und natürlich kann sie von den Steuern abgezogen werden. Shukran !
Atlas, Berberaffen und Zedernwälder
Zunächst möchte ich all jenen ein grosses Dankeschön aussprechen, die eine Spende an Helvetas geleistet haben und mich so noch zusätzlich motivieren. Es wird mir eine Ehre sein, die gesammelten Spenden persönlich überbringen zu können. Bis dahin werden aber noch ein paar Schweisstropfen falle, und vielleicht auch ein paar Regentropfen.
Eine kleine Berichtigung muss ich hier zum letzten Artikel noch anbringen. Der Durchfall war alles andere als überstanden. Bereits bei der Abfahrt in Moulay Idriss stösst mir das Morgenessen auf. Ich halte die verschiedenen Gerüche der Grillstände, der open-air Metzgereien mit ihren Auslagen an fettigem Schaffleisch, den Gestank von verbrennten Haushaltsabfällen und verwesenden Hundekadavern am Strassenrand nicht mehr aus. Die schwarz qualmenden Fabriken am Rand von Meknès geben mir den Rest. Brechreiz. Ich kann gerade noch am Strassenrand anhalten, wie ein echter Rennvelofahrer verliere ich keine Zeit und steige nicht vom Velo ab. Übergebe mich und leere meinen ganzen Mageninhalt. Geschwächt fahren wir in die Stadt rein. Der Zufall will es, dass genau jetzt der erste Regen nach fünf Monaten Dürre einsetzt. Durchnässt, bereits in der Dunkelheit suchen wir nach einer Bleibe. Das Hotel, das wir im Reiseführer rausgesucht haben, ist dank der Hilfe eines Parkwächters schnell gefunden. Dieser hat die Unverfrorenheit, Geld für seine Dienste zu verlangen. Ob er sich dafür nicht schäme, frage ich ihn, sowas sei mir in einem islamischen Land noch nie passiert. Der Junge im Hotel dann das Gegenteil, alles andere als geschäftstüchtig. Die Velos müssen draussen bleiben. Wir bleiben mit den Velos draussen. Die Auberge de Jeunesse ist zum Glück schnell gefunden. In der Küche kochen wir uns Reis. Reis zum Znacht, zum Zmorge, Zmittag und Znacht. Mit Kartoffeln, Petit Henrys (so heissen hier die Petit Beurres), Apfelmus, Poulet. Jeweils als weicher Brei. Der Magen erholt sich aber endlich. Und von Loperamid und Motilitätshemmern, die wie ein Pfropfen wirken und verhindern, dass sich die Übeltäter verziehen können, lasse ich inskünftig die Hände.
Wir können unsere Velos bei einer französisch-marokkanischen Familie in Meknès unterstellen und nehmen den Zug nach Rabat. Das funktioniert einwandfrei. Die zweite Klasse ist sehr sauber und vergleichbar mit derjenigen in der Schweiz. Sogar sauberer und ohne haufenweise Gratiszeitungen und PET-Flaschen. Zugfahren ist in Marokko sehr attraktiv. Für wenig Geld kann man ein Round-Ticket kaufen. Die gebräuchlichste Art des Transportes sind natürlich motorisierte Fahrzeuge. Grand Taxis, Petit Taxis, Busse, Lastwagen. Erstaunt hat mich, wie riesig die Youngtimer, bzw. Oldtimer-Szene hier in Marokko ist, allen voran die Gilde der Mercedes-Fahrer.
Aber auch Esel und Maultiere sind vom marokkanischen Alltag nicht wegzudenken. Die werden hier nicht aus folkloristischen Gründen gehalten, sondern verrichten Schwerarbeit und müssen beispielsweise Felder pflügen. Der Anblick ist nicht selten hier. Einzig „la vache qui rit“ hat hier gut Lachen. Dieser Schmelzkäse gehört hier in Marokko schon fast neben Tajine, Couscous und Minztee zur Nationalspeise. Nichts zu lachen haben hingegen Schafe. Die werden hier auf Schubkarren, auf Eseln, eingepfercht in Lastwagen, in Kofferräumen transportiert. Hinten auf dem Mofa halbtot gebunden. In diesen Tagen haben sie ein besonders hartes Los. Am 6. November wird nämlich im ganzen Land Aïd el Kebir gefeiert. Ein wichtiges muslimisches Familienfest, an dem der Bereitschaft Abrahams gedacht wird, Gott zu folgen und seinen Sohn Isaak zu opfern. Marokkanische Flaggen werden in allen Ortschaften aufgehängt, Familienbesuche mit entsprechender Zunahme von Verkehr stehen an und die Tradition sieht eben vor, dass jeder Haushalt, der es sich leisten kann, ein Schaf schlachtet.
Zurück nach Rabat. Die Jagd auf die farbigen Stempel und Kleber im Pass ist eröffnet. Montag, Punkt 9 Uhr stehen wir vor der mauretanischen Botschaft. Bravo. Gerade einmal etwa 30 Personen stehen bereits Schlange. Senegalesen, Overlander, Expats, Individualtouristen, Töfffahrer. Die üblichen chaotischen Szenen, Geschubse, Geschrei, Rumfragerei, Rempeleien. Wo gibt es das Formular ? Am Schalter. Nach vorne drängeln, eines ergattern. Formular im Stehen ausfüllen. Adresse in Mauretanien ? Kein Problem, schreib einfach „Hotel Nouakschott, Nouakschott“ hin. Eine Stunde Vorgeschmack auf Mauretanien und Senegal. Die Hauptstadt Marokkos gefällt uns sehr: elegant, modern (mit einer neuen Strassenbahn), international (insbesondere Afrikaner aus dem ganzen Kontinent sind hier zu sehen), überschaubar. Wir quartieren uns in der Medina im Hotel Marrakesh ein (mit unserer Hotelwahl greifen wir wohl stets meine Route vor), essen praktisch täglich im Restaurant de la Libération, dem wohl besten Restaurant in der ganzen Medina. Um ein Bild der Preise zu bekommen: für zwei Suppen Harira, grilliertes Poulet, Brochettes, Cola und Kaffe bezahlen wir 74 Dirham, umgerechnet 7 Euro. Wir besuchen das Quartier „Kasbah des Oudaïas“, sehen uns die Hassan Moschee von draussen an. In Marokko dürfen Nicht-Muslime, anders als etwa in der Türkei oder im Iran, Moscheen leider nicht besuchen. Das Mausoleum des 1961 verstorbenen Königs Mohammed V dürfen wir wiederum ansehen. Und sogar die prachtvoll gekleidete königliche Garde abfotografieren. Die Marokkaner sind ansonsten eher fotoscheu und viele lehnen es zu meinem Bedauern leider ab, abgelichtet zu werden.
Fotomotive gibt es dafür mehr als genug im Souk, der vor allem am späten Nachmittag und abends sehr gut besucht ist. Enge Gassen, in denen sich kleine und kleinste Geschäfte aneinanderreihen. Das Angebot scheint sich zwar überall zu wiederholen, es gibt unzählige dieser kleinen Lebensmittelläden, die auf wenigen Quadratmetern einige hundert Produkte anbieten. Am Boden und auf Handwagen wird die Ware ausgelegt. Ansonsten findet sich im Souk alles Mögliche: Kleider, Babouches, gebrannte Musik-CD’s, Haushaltartikel, gedörrte Früchte, Oliven, Nüsse, jegliche Esswaren, imitierte Markenkleider. Ein Gewühl von Marktschreiern, Schneckenverkäufern, Bettlern, Schuhputzern.
Erwartungsgemäss können wir am Mittwoch das Visum abholen. Ins Taxi, zum Bahnhof, in den nächsten Zug nach Meknès, unterwegs halte ich einen Schwatz mit einem anderen Schweizer, der sich mit seiner Familie in Fès für einige Monate niedergelassen hat, um Arabisch zu lernen. Meine Arabisch-Kenntnisse sind da schon einiges bescheidener. Immerhin gelingt es mir, einigermassen auf arabisch einzukaufen und die Leute nehmen meine Anstrengungen sehr positiv auf.
In Meknès empfängt uns Nerjam, der junge Angestellte aus der Auberge de Jeunesse, freudig und umarmt uns beide. Am nächsten Tag regnet es Bindfäden und wir legen einen weiteren Ruhetag ein. Zeit, um die Stadt genauer anzusehen. Das Mausoleum von Moulay Ismail beispielsweise, dem grausamen Sultan aus dem 17. Jahrhundert. Aber auch Zeit, um im grossen Supermarkt Label Vie (ausgesprochen La belle vie…) einzukaufen, vor allem seit langem wieder einmal zwei kühle Bier. Spirituosen werden hier in einem separaten Raum feilgeboten und können dort diskret bezahlt werden, um sie nicht an den Hauptkassen auf das Fliessband ausbreiten und sich selber outen zu müsssen. Die Leute stehen etwas verstohlen im Alkoholraum herum, als wären sie einem Erotikladen und würden sich schmutzige Heftchen anschauen.
Endlich können wir wieder unsere Räder satteln. Richtung Mittleren Atlas und Azrou. Wir schaffen es nicht ganz und müssen auf der Passhöhe auf 1‘475 Metern Höhe hinter einem Hof zelten. Es wird eine kalte Nacht, um 5 Grad. Die Gelegenheit, um unsere neuen, vom Outdoor-Shop Landweg in Bubendorf gesponserten Daunenschlafsäcke zu testen. Am nächsten Morgen kommen wir keine 20 Meter weit: mein erster Platten ! Nachdem der Platten geflickt ist, können wir endlich einen Fotostopp auf dem Aussichtspunkt einlegen, danach geht es runter nach Azrou. Von hier dann wieder rauf in die Zedernwälder der Réserve Naturelle d’Ifrane. Und bereits nach wenigen Kilometern treffen wir, wie im Reiseführer vorhergesagt, auf wild lebende bzw. kopulierende Berberaffen. Danach führt ein Höhenweg auf rund 1‘800 Metern mit unzähligen Kurven durch Berberdörfer und eindrückliche Eichen- und Zedernwälder. Es finden sich immer wieder Monumente und Giganten von Zedern, 30 bis 40 Meter hoch. Mit solchen Wälder rechnet man nicht unbedingt in Marokko. Die Zedern scheinen aber hier gut zu gedeihen. Die Behausungen der Berber sind teilweise sehr schlicht: einfache Häuser mit Flachdächern, Plastikzelte. Vereinzelt betteln Kinder und verursachen mit ihren Begehrlichkeiten eher Heiterkeitsanfälle: „Donnez moi un carton“ (gemeint war wohl „bonbon“), „donnez moi un stylo rouge“ (wieso will niemand Papier?).
Die nächsten Tage sind ganz nach unserem Geschmack: praktisch kein Verkehr, wunderbare Landschaften, reine Luft. Besser als die stickige und staubige Luft unten. Wir kommen ins Berberdorf Aïn Leuh, die Sonne scheint, angenehme Temperaturen um 25 Grad. Hier können wir unsere Gemüse- und Früchtevorräte aufstocken, für 4 Dirham (rund 40 Rappen) kaufen wir Mandarinen, Äpfel, Zwiebeln, Karotten, Peperoni ein. Wir bestellen im Hotel Laayoune (diese Ortschaft liegt auch auf meiner Route…) auf dem Hauptplatz einen Kaffee. Die Maschine funktioniere nicht, meint der Kellner, es gebe aber Nescafé. Kein Problem. Er läuft schnell zum Laden nebenan, besorgt sich zwei Sachets Nescafé. Wir essen unsere Fladenbrote, mit fingerdicken Schichten Nutella. Bestellen nochmals zwei Café au lait. Der Kellner rennt wieder zum Nachbar nebenan. Nutella, die würzige Halal-Koutobia-Dinde-Wurst, Vache qui rit-Schmelzkäs, Bananen und Fladenbrot sind tagsüber unsere Grundnahrungsmittel.
Wohlgenährt starten wir den Tag. Ausgangs Azrou ruft mich ein Junge, der ganz offensichtlich ein mechanisches Problem an seinem Velo hat, laut mit „Hey“ an. Ich gebe ihm zu verstehen, dass man allenfalls Hunde derart anspricht, aber sicher nicht Menschen. Er und seine zwei Kumpanen begrüssen mich danach über freundlich und ich repariere ihm seine verbogene Kette. Wir radeln wieder durch dichte Wälder, unterbrochen durch steppenartige Hochebenen und karstigen Abschnitten. Gelb leuchten die Laubbäume, die den See Aguelmame Ouiouane umgeben.
Und dann geht es runter zu den Quellen des Flusses l’Oum er Rbia. Aus rund 40 Quellen mit kristallklarem Wasser bildet sich hier ein strömender Fluss. Leider sieht man nicht viel, denn sämtliche Quellen sind durch schäbig wirkende Verkaufs- und Verpflegungsstände zugepflastert. Zum Glück sind aber alle leer und wir ganz alleine. Es ist Montag Morgen, wir sind ausserhalb der Saison. Ein Berber vermietet uns ein einfaches Zimmer ohne Strom und Wasser, dafür mit Gasbeleuchtung, in das wir die Velos gleich hineinfahren können. Eher der Form halber drücke ich den Preis von 100 auf 80 Dirham runter. Immer noch teuer, aber uns soll es recht sein. Er ist um dieses gute Geschäft wohl sehr froh. Jedenfalls beauftragt Mohammed seine Mutter, uns am Morgen zu einem Tee einzuladen. Sie holt uns ab, wir laufen den steilen steinigen Weg rauf. In einem sehr einfachen aber sauberen Hof steht der Teppich mit einem kleinen, runden Holztisch bereits bereit. Uns wird ein stark gezuckerter Pfefferminztee serviert, ein leckeres Eieromelette, eine Schale mit Olivenöl, um das frisch zubereitete Fladenbrot darin zu tränken.
Um aus der modernen Grosstadt Beni Mellal rauszukommen, brauchen wir über eine Stunde. Es ist Wochenmarkt, der Verkehr auf der Durchgangsstrasse steht still. Weiter vorne liegt ein verletzter Velofahrer auf der Strasse und blockiert den Verkehr. Die Ambulanz wird Mühe haben, sich einen Weg hierhin zu bahnen. Der Unglückliche ist wohl angefahren worden, blutet aber zum Glück nicht. Obschon die Strasse danach flach ist, ziehen Wolken auf, ein Nieselregen setzt ein. Es herrscht reger Verkehr, die Strasse ist eng, ohne Pannenstreifen, wir werden immer wieder durch lautes Hupen auf den Schotter abgedrängt. Als ich auf der Höhe einer Primarschule Jagd auf einige steinewerfende Kinder mache, rutscht Mélanie, soeben in Sichtweite, auf dem nassen Belag aus und schlägt sich das Knie an. Der Schuldirektor lädt uns zu einem Tee ein, klärt uns über das marokkanische Schulsystem auf. Leider ziehen viele Familien ihre Kinder frühzeitig von der Schule ab. Für die Kinder mit dem weitesten Schulweg habe der Staat acht Velos gespendet. Da es aber unmöglich sei, festzustellen, wer den weitesten Weg hat und man sich nicht einigen konnte, sind die nigelnagelneuen Velos immer noch nicht verteilt worden. Wir fahren danach im Gegenwind weiter bis nach Imdahane. Hier ist das einzige Hotel noch nicht eröffnet. Bauschutt liegt noch herum, wir stolpern über Stromkabel, weder Lampen noch sanitäre Anlagen sind installiert, einzig ein Zimmer ist einigermassen hergerichtet. Duschen müssen wir im Restaurant nebenan. Immerhin sind wir die allerersten Gäste und weihen so das Hotel ein. Am nächsten Tag regnet es. Zeitweise setzen sintflutartige Regengüsse ein. Nach etlichen Kaffees , einem Schwatz mit Simo, dem 24-jährigen Besitzer und der Einsicht, das Velofahren an diesem Tag einer Selbstpeinigung gleichkommt, gehen wir zurück ins Hotel.
Ich nutze die Zeit für einen kleinen Spaziergang im Dorf nebenan, nach meiner Rückkehr fängt es wieder heftig an zu regnen und der erste Tourenfahrer, dem wir hier in Marokko begegnen, Stanislas, ein etwa 50-jähriger Franzose aus Belgien, fährt wie in Trance an mir vorbei. Er ist pflotschnass. Ich rufe ihn herbei und sage ihm, dass es hier in Imdahane, eine etwa 1000-Seelen-Ortschaft, unerwarteterweise ein Hotel gebe. Er ist sichtlich erleichtert, wäre er doch ansonsten weitere 40 Kilometer im Regen und Gegenwind gefahren. Und das um 4 Uhr nachmittags, wenn es um 18 Uhr bereits dunkel ist. Da er keine Beschriftung gesehen habe, sei er einfach weiter gefahren. Seit seiner Pensionierung 2005, als er das Familienunternehmen verkauft habe, unternehme er jedes Jahr 2 bis 3 monatige Velotouren, in die Türkei, nach St. Petersburg, auf der Balkan-Halbinsel. Zelt und Schlafsack habe er nur für den Notfall dabei, er habe es aber nie gebraucht bis anhin und wisse gar nicht, wie man das Zelt aufstelle. Bis jetzt hat er immer ein Hotelzimmer gefunden. In Marokko sei er einmal er vor einer „trentaines d’années“ gewesen, er habe aber keine Erinnerungen mehr daran. Originell finde ich seinen riesigen Stock gegen Hundeattacken, den er griffbereit in einer Hülse an der Vorderradgabel versorgt hat.
Endlich In Marrakesh angekommen, quartieren wir uns in einem kleinen Riad ein. Nachdem wir lange keinen Touristen begegnet sind, wimmelt es hier nur so von Kurzaufenthaltern. Ein Vorteil ist immerhin, dass das Angebot an sauberen und geschmackvoll eingerichteten Unterkünften riesig ist, man die Qual der Wahl und bereits für umgerechnet 20 Franken in einem Riad oder einer maison d‘hôte schlafen kann. Ein Riad ist ein Haus in der Medina, das rings um einen Patio gebaut ist, und heute oft zu Hotels umfunktioniert worden sind, auf der Terrasse kann dann morgens gediegen gefrühstückt werden. Der Riad-Hype hat hier in Marrakesh angefangen und Riads sind mittlerweile überall zu finden, aber insbesondere in der Küstenstadt Essaouira, Fès und eben in Marrakesh. Der Anschlag im April dieses Jahres auf dem Hauptplatz Djema el Fnaa im Café Argana scheint sich übrigens nicht negativ auf den Tourismus ausgewirkt zu haben. Mélanie wird von Marrakech wieder in die Schweiz zurückfliegen. Danke Mélanie für die vier tollen Wochen. Und für die organisatorische und moralische Unterstützung. Ohne Ihre Hilfe wäre ich heute nicht hier.
Auf afrikanischem Boden
Mélanie kommt rechtzeitig am 6. Oktober in Malaga an. Das Velo ist am Flughafen schnell zusammengepackt, nach einer kurzen Fahrt suchen wir im Zentrum ein Hotel. Die Stadt ist nachts sehr belebt. Alle Einwohner von Malaga (wie sie in einem Wort heissen, habe ich auf die Schnelle nicht rausgefunden; Malagueña ist ein Flamenco-Thema…), besonders die weiblichen, scheinen sich herausgeputzt zu haben. Nachdem ich Landpreise gewöhnt bin, erscheint mir ein Kaffee für 2 Euro oder mehr ausserordentlich teuer. Nach einem obligaten Besuch im Picasso-Museum und einem Spaziergang kehren wir der Stadt den Rücken.
Ich freue mich, wieder mit Mélanie zu radeln. Um es mir nicht allzu leicht zu machen, hat sie mir noch zusätzlich etwa 4 Kilogramm Extra-Gepäck mitgenommen: Ersatzreifen, Malaria-Tabletten, Moskitonetz, Wasserfilter, Dollars, Afrika-Reiseführer, einen nigelnagelneuen Netbook (der alte Macbook war mir definitiv zu schwer) … und eine Liegematte, die sie noch zwei Stunden vor dem Abflug eingekauft hat. Genau an jenem Morgen hat sich nämlich meine alte Liegematte langsam zu einem Ballon aufzulösen begonnen. Mit meinen letzten Rappen auf der Prepaid-Karte konnte ich Mélanie gerade noch erreichen und die entsprechenden Instruktionen durchgeben. Service in letzter Sekunde. Danke an das Dreamteam Mélanie und Grégory !
Die Strasse von Malaga nach Algeciras ist etwas vom Schrecklichsten, das man mit dem Velo befahren kann. Die alte Küstenstrasse ist in den 70-er Jahren zu einer Autovia erweitert worden, drei Kilometer weiter nördlich führt eine neue, gebührenpflichtige und deshalb unbenutzte Autobahn. Das Wort Velo, Fussgänger und Rollstuhl gabs wohl in den 70-er Jahren noch nicht oder es passte nicht zu der damals utopischen Sichtweise. Velostreifen ? Nicht die Spur. Mélanie und ich versuchen zunächst, hinter den Leitplanken einen Weg zu finden. Der Streifen zwischen den Leitplanken, Abschrankungen und Lichtmasten ist aber derart gering, dass wir öfters die Packtaschen abnehmen müssen. Wir verlieren zu viel Zeit und stürzen uns dann irgendwann mal zähneknirschend auf die Horrorautobahn.
Unvorstellbar. Womöglich noch mit EU-Geldern mitfinanziert, um die „Entwicklung“ dieser Randregion voranzutreiben. Was mich besonders nervt ist, dass absolut keine Anstrengungen ersichtlich sind, um die Scharte auszuwetzen und beispielsweise einen Velo-Fussgängerstreifen zu bauen. Ein englisches Paar kann ebenfalls nur den Kopf schütteln, die Frau ist im Rollstuhl. Kompliment an die Spanier: besser kann man eine Küste nicht verunstalten und unattraktiver machen. Immerhin attraktiv genug für Billig-All-inclusive-Reisende und solche, die sich in Marbella einer Schönheitschirurgie unterziehen wollen. Oder im Entenschritt gruppenweise blindlings in Mélanies Velo laufen. Mélanie faucht Touristen an und ich zeige den Autofahrern, die uns von der Strasse abdrängen wollen, den Stinkefinger.
Eine ganz andere Klientel peilt Sotogrande an: luxuriöse Wohnungen an einem künstlich angelegten System aus Kanälen, in denen sich die Sportboote aneinander reihen. Villen, ein perfekter Belag, grüner Rasenstreifen am Wegrand, wie man ihn an keinem Camping findet. Entsprechend das Angebot: Golf, Polo, Puerto, Playa und eine spezialisierte Herzklinik. Der Zutritt ist überwacht, nur durch eine Barriere gelangt man hinein in diese Enklave. So stelle ich mir etwa Miami vor.
Gibraltar lassen wir uns nicht entgehen und ist durch den steil aus dem Meer aufragenden Felsklotz, der im Altertum als einer der beiden mythischen „Säulen des Herkules“ galt, auch nicht zu übersehen. Wir können nun wenigstens behaupten, Fuss und Veloreifen auf britischem (oder englischem ?) Boden gesetzt zu haben. Wirklich gelohnt haben sich die wenigen Kilometer dorthin nicht wirklich. Zwei Dinge haben mich aber beeindruckt: erstens die grosse dunkle Wolke, die einsam über dem „Rock“ hing und einem das Wetter dort wirklich englisch vorkam: kühl und windig. Zweitens die Fluglandebahn, die parallel zur Grenze Gibraltar-La Linea de la Concepcion führt. Diese wird für den gesamten Verkehr geschlossen, wenn eine Landung oder ein Abflug bevorsteht. Was für die Zaungäste natürlich ein Spektakel ist, wenn ein Flieger in wenigen Metern Entfernung abhebt. Nach dem Spuk werden die Zäune geöffnet und die Massen von Duty-Free-Touristen strömen wieder zu Fuss und motorisiert über das Rollfeld des Flughafens. Ansonsten fühlt man sich in „Gib“ wirklich in England: Fish and Chips, Kinder in Schuluniform und Polizisten, die Rollerfahrer büssen, weil sie die Schnalle unter dem Helm nicht zugemacht haben.
In Algeciras quartieren wir uns im arabischen Viertel ein. Das ist schon sehr marokkanisch geprägt. Im Hotel Tetouan, eine billige Absteige, aber gut überwacht durch den Boxer am Empfang, der jeden Gast anspringt und anbellt. Endlich geht es dann am nächsten Tag auf den Catamaran, der uns in einer Stunde nach Ceuta führt. Seit dem 16. Jahrhundert und zusammen mit Melilla weiter im Osten eine spanische Enklave. Seit der Unabhänigkeit Marokkos im Jahre 1956 ist sie dies auch geblieben. Spanien sieht keinen Widerspruch darin, Gibraltar zu beanspruchen aber Ceuta den Marokkanern nicht zurückgeben zu wollen. Der Grenzübertritt gestaltet sich trotz der vielen Menschen mit übervollen Taschen, der Hektik, den verbeulten, stinkenden und schrottreifen Autos, problemlos. Wir sind gewarnt davor, dass Marokkaner uns „registrations forms“ andrehen wollen, die normalerweise nichts kosten.
Die Strasse bis nach Tetouan ist breit, mit einem grosszügigen Velostreifen. Palmen und Grünstreifen säumen den Weg. Wichtig für den ersten Eindruck. Strassenputzer befreien die Strasse von Dreck und Scherben. Daneben eine breite Fussgängeralle, mitfinanziert durch eine marokkanische Telekom-Firma. Kein Vergleich zu Spanien. In Tetouan machen wir zunächst einen Halt in der Nouvelle Ville, um unseren ersten Pfefferminztee zu trinken. Danach tauchen wir in das Gewühl der Altstadt und der Medina ein. Und quartieren uns in der heruntergekommenen Pension Africa ein. Trotz hartnäckigen Verhandlungsversuchen gelingt es mir nicht den Preis weiter zu drücken und bezahle 100 Dirham (rund 9 Euro). Immerhin werde ich danach zu einem Tee eingeladen, während sich die Anwesenden und ein Künstler aus Andalusien Haschichpfeiffen rauchen und sich die Birne so richtig zunebeln. Ein Angestellter scheint wohl in seinem Leben zu viel von diesem Zeugs geraucht zu haben, trägt er doch bereits deutliche psychotische Züge, führt Selbstgespräche und benimmt sich etwas sonderbar.
Der erste Kulturschock ist verdaut. Als Einführung in Marokko eignet sich Chefchaouen, die Stadt mit den blau getünchten Fassaden, da schon viel besser. Nichts wie dorthin. Die Michelin-Karte im Masstab 1: 1 Million lässt viel Raum für Überraschungen. Fragen ist nicht immer sehr ergiebig. So variiert die Distanz von Tetouan bis nach Chefchaouen von 20 bis 120 Kilometer (die Mitte trifft hier zu..) und ist von sehr flach bis sehr gebirgig (Letzteres bekamen wir zu spüren). Dazwischen liegen tatsächlich über 1‘000 Höhenmeter. Es steigt, und steigt. Auch das Thermometer. Mélanie ist um zwei Uhr Nachmittags sichtlich erschöpft.
Chefchouen ist 1471 gut versteckt zwischen Berghügeln des Rif-Gebirges gegründet worden. Viele während der Reconquista aus der iberischen Halbinsel vertriebene Araber und Juden haben sich hier niedergelassen. Die Lage ist strategisch ausgezeichnet. Auf der einen Seite durch Berge versteckt, die kristallklares Wasser liefern. Zahlreiche Brunnen finden sich in den Gassen der Medina. Vom Tal aus war die Stadt nicht zu sehen. Bis 1920, als spanische Truppen die Stadt belagerten, haben gerade einmal nur drei Europäer die Stadt zu Gesicht bekommen: einer während einer Stunde, der zweite wurde vergiftet und der dritte, Walter Harris, Times Journalist, hielt seine Beobachtung im Werk „Land of an African Sultan“ fest. Die Spanier staunten nicht schlecht, als sie entdeckten, dass die Juden hier eine mittelalterliche und längst ausgestorbene Form des Kastilischen sprachen. Heute ist Chefchoauen eine angenehme Stadt, anders als in anderen Städten wird man nicht konstant belästigt und von Händlern und Mittelsmännern angesprochen.
Das Haschisch-Rauchen scheint hier in Marokko, besonders im Norden, eine Art Volkssport zu sein, hat aber tatsächlich eine jahrhundertealte Tradition. Zwar verboten, aber mehr als toleriert unter Marokkanern. Der süsse, schwere Duft weht uns überall in die Nase. Bereits 1809 beschrieb James Grey Jackson in „An Account of the Empire of Morocco“ dies folgendermassen: „The Hashisha, or leaves of the plant, are dried and cut like tobacco, and are smoked in very small pipes, but when the person wishes to indulge in the sensual stupour it occasions, he smokes Hashisha pure, and in less than half an hour it operates; the person unter its influence is said to experience pleasing images: he fancies himself in company with beautiful women; he dreams that he is an emperor, or a bashaw, and that the world is at his nod.“ Was Lotfi, ein guide de montagne, dabei empfindet, wissen wir nicht. Jedenfalls ist er sehr hilfsbereit, führt uns zu einem günstigen Hotel in Chefchaouen und gibt uns Hinweise, wo wir gut essen können. Ohne danach für diesen Dienst die hohle Hand zu machen. Am nächsten Morgen machen wir an einem kleinen Platz an einem Kaffee früh ab, trinken zusammen einen Kaffee. Er zündet sich einen fetten Joint an. Eher schüchtern fragt er uns, ob wir eine Trekkinghose für ihn hätten. Nein, ich schenke ihm aber meinen alten Feldstecher, der seine besten Tage (auf meiner Tibet-Reise) hinter sich hat.
Wir bleiben vier Tage in Chauen, wie die Marokkaner sagen. Mélanie hat eine Grippe und bedarf noch etwas Erholung. Bei der Essensaufnahme sind wir etwas zu unvorsichtig und verlassen unsere zwei Stammlokale und probieren das Restaurant Paloma aus. Ein englisches Paar steht bereits bei der Suppe und dem Salat empört auf. „Lousy food“. Wir finden die Reaktion völlig übertrieben. Wir haben auch Suppe und Salat bestellt, die sind wirklich nicht sehr gut, aber der Hauptgang und die Preise stellen alles in den Schatten. Grottenschlecht. Im Ergebnis hatten sie absolut Recht. Als Geschenk gibt es für mich dafür noch den ersten Durchfall, wohl unvermeidlich auf solchen Reisen. Oder war es doch von der „friture de poissons“ am nächsten Tag ?
Jedenfalls sind wir auf der Fahrt nach Ouezzane beide nicht topfit, danach leide ich. Trotz frühem Start muss ich bereits um elf Uhr hinter einem Stück Mauer hinliegen, Mélanie macht mir einen kühlen Verband. Nach einer Stunde siechen wir uns in der Mittagshitze bis zur nächsten Ortschaft Jorf-el-Melha, das Normaltouristen nur vom Bus aus zu sehen bekommen. Es scheint uns, dass nur wenige Marokkaner, insbesondere jüngere, hier und anderswo der französischen Sprache mächtig sind. Zwar mache ich Fortschritte auf arabisch, aber um das Wort „riz“ zu übersetzen, bedarf es eines Kollegen, der es per Handy übersetzt. In dem unfreundlich wirkenden Ort gibt es kein „funduk“, kein Hotel. Also noch einige Kilometer weiter, hinter einer Tankstelle gesellen wir uns zu Hühnern, Kühen, Knochenresten und Misthaufen. Im Stehen ist mir der Gestank nicht allzu negativ aufgefallen. Vielleicht waren wir auch zu sehr beschäftigt, um unseren Reis mit Karotten und Knoblauch zu kochen. Im Liegen wird mir aber nachts ordentlich übel. Dafür sorgt der freundliche „guardien“ der Tankstelle für unsere Sicherheit. Erschöpft legen wir uns um 20.10 bereits im Zelt zum Schlafen.
Es geht danach aufwärts, vor allem die Strecke steigt wieder an. Nochmals 400 Höhenmeter. Wieder in der Mittagssonne. Aber eine Pilgerfahrt nach Moulay Idris ist nun halt kein Zuckerschlecken bzw. Couscousessen. Moulay Idriss el Akhbar ist ein wichtiger Nachfahre vom Propheten Mohammed und in Marokko der meistverehrte Heilige. Sein Schrein und die ganze Anlage sind Nicht-Muslimen leider nicht zugänglich. Bis 2005 war es diesen sogar verwehrt, hier zu übernachten. Ungewollt habe ich ein Fünftel einer Pilgerfahrt nach Mekka absolviert. Denn eine Pilgerfahrt nach Moulay Idris ist nämlich soviel wert.
Langweilig wird es uns in Moulay Idris aber nicht, denn es gibt das bis anhin beste Grillfleisch zu kosten und derart gestärkt in vier Kilometern Entfernung Volubilis zu besichtigen. Eine riesige, beeindruckende römische Stätte. Weltkulturerbe. Aber die Welt scheint sich nicht dafür zu interessieren, das archälogisch wertvolle Kulturerbe zu erhalten. Nur wenn Hollywood wieder eine tolle Kulisse braucht, ist man zur Stelle. So auch Martin Scorsese für den Film „The last temptation of Christ“. Angesichts der zahlreichen Touristen täuschen die wenigen Angestellten Beschäftigung vor, schaufeln etwas Erde in eine Schubkarre, schaufeln diese wieder zurück oder lesen versteckt Zeitung. Wer kann es ihnen verübeln, bei den Hungerlöhnen von 50 Dirham pro Tag (ca. 5 Euro)? Die Beschriftungstafeln sind unleserlich, das Café zum Davonlaufen und die zum Verkauf angebotenen, verblichenen Bücher stammen aus den 80er-Jahren. Bis zur Islamisierung wurde übrigens in Volubilis noch Lateinisch gesprochen und die Stätte war bis zum 18. Jahrhundert besiedelt, als danach der Marmor weggetragen wurde, um es in Meknes für andere Bauten zu rezyklieren.