Tashi Delek !
Auf tibetisch hat mich der Franzose hier oben nicht gegrüsst. Immerhin entspricht er aber dem Bild, das man landläufig von einem Franzosen hat.
Seit dem 10. September bin ich alleine unterwegs. Zuerst fahre ich Richtung Cévennen. In Orange mache ich nur für einen Espresso Halt. Für die Sehenswürdigkeiten und Sightseeing in der Hitze habe ich keine Musse. Weiter geht’s am AKW Marcoule vorbei. Ich mache mir Gedanken über die Atomenergie, über Fukushima, darüber, dass man gemeinhin über die Herkunft von Uran und unter welchen Umständen es abgebaut wird, nicht viel weiss. Augen verschliessen und auf die lange Bank schieben. Das Uran der Bombe von Hiroshima stammte angeblich aus dem Kongo. Nur wenige Stunden später wird es hier explodieren und ein spanischstämmiger Arbeiter wird verbrennen.
Ich streife die Cévennen, eine Landschaft, die zusammen mit den Causses, den Kalk-Hochebenen, von der Unesco als Weltkulturerbe geschützt wurden. Eichen- und Kastanienbäume herrschen vor. Und langsam zeigen sich auch die ersten Pilze, insbesondere Satans- oder Hexenröhrlinge – meine rudimentären Pilzkenntnisse reichen leider nicht aus, um diese auseinanderzuhalten. Ich lasse lieber die Finger davon. Zwei Jünglinge auf einem Roller, der eine mit Helm mit Satanshörnern, überholt mich einige Tage später. Beide haben je einen Korb voller Pilze. Ich halte sie an, sie schenken mir ein halbes Kilo Röhrlinge und Steinpilze. Ihr Vater habe am Vortag 32 Kilogramm geerntet.
Die Causses sind ausgedehnte Kalkplateaus im Süden des Zentralmassivs. Im Süden öffnen sie sich zu den Ebenen des Départements Hérault und des Bas Languedoc. Karge Hochplateaus, gigantische Canons und Klüfte. Tief eingeschnittene Täler kontrastieren mit den kargen Hochebenen, die an die Steppen Zentralasiens erinnern. Zahlreiche Dolmen, Menhire und Steinzirkel zeugen von der frühen Besiedlung dieser Gegend. Regenwasser wird vom Kalkboden wie ein Schwamm aufgesaugt. Wie bei uns im Jura finden sich hier riesige Höhlen. Die Causses sind ein bevorzugtes Gebiet für die Schafhaltung. Die Milch wird zu Käse verarbeitet, der weiter nördlich in den berühmten Kellern von Roquefort-sur-Soulzon reift.
Ein besonders eindrückliches Exemplar einer solchen Karstlandschaft sind die Cirques de Navecelles. Ein 300 Meter tiefer Canon, darin findet sich eine durch einen Fluss natürlich geschaffene Pyramideninsel. Am Rande der Weiler Navecelles. Vor 10 Millionen Jahren begann ein Mäander des Flusses Vis, sich einzuschneiden, um vor rund 6000 Jahren sein Werk zu beenden und sich einen anderen Weg zu suchen. Ich campe direkt am Aussichtspunkt, um am Morgen die ersten Sonnenstrahlen fotografisch einfangen zu können.
In Le Caylar erwarten mich Françoise und Hubert, die ich durch das Tourenfahrern vorbehaltenem Netzwerk Warmshowers kennengelernt habe. Ich bin an der richtigen Adresse. Le Caylar war seit jeher ein wichtiger Durchgangsort für Reisende zwischen Nord und Süd, gelegen zwischen den weniger verkehrstauglichen Cévennen im Westen und den Monts du Haut-Languedoc im Osten. Es fing mit der Transhumanz an und kulminiert heute in der Autoroute A 75, eine der wichtigsten Verkehrsadern zwischen Nordeuropa und der iberischen Halbinsel. Den Verkehr bekomme ich in Le Caylar zu spüren, die Autobahn ist für wenige Stunden gesperrt, Durchreisende quälen sich durch das Dorf mit 425 Seelen.
In Le Caylar findet jährlich das Festival du Roc Castel statt, das einen Schwerpunkt auf das langsame Reisen gelegt hat. „Éloge du voyage lent“ lautet das Motto des diesjährigen Festivals. Klar, dass Velofahrer überproportional vertreten sind. Einer fehlt jedoch unfallhalber am Festival. Und so nimmt Hubert telefonisch mit Gérard Kontakt auf, da er ebenfalls in Afrika Rad gefahren ist (www.zagafrica.fr) . Hubert unternimmt zwar nur kleinere Velotouren in Europa, ist ansonsten aber in vielen Reise-Netzwerken angeschlossen und hat Freude daran, Veloreisende und allgemein Reisende aufzunehmen. Er vermittelt mir noch viele weitere Kontakte. Ganz nebenbei kann ich auch noch seine Kochkünste ausprobieren. Allerlei regionale Spezialitäten tischt er auf, unter anderem Roquefort-Würste, Crême fraiche mit Marronipaste und entsprechenden Wein. Françoise et Hubert, merci pour votre accueil et votre précieuse aide !
Kurz vor Mittag breche ich auf. Keine 13 Kilometer komme ich weit. Von Weitem fällt mir auf einem Hügel eine Installation mit Flaggen auf. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Habe ich letztmals in Tibet am heiligen Berg Kailash gesehen. Und tatsächlich: ein tibetischer Tempel eingebettet zwischen den bewaldeten Hügeln. Was für ein Zufall ! Ich werde sofort an meine Tibet-Reise von 2006 erinnert und bin ganz entzückt.
Julien arbeitet im kleinen Verkaufslokal, er schenkt mir spontan ein vom Dalai Lama geknüpftes Band, zeigt mir trotz Besucherverbot die ganze Anlage und lädt mich zum Essen ein. Die Leute arbeiten hier hauptsächlich als „bénévoles“, erhalten Kost und Logis und Unterricht in Meditation und der buddhistischen Lehre. Die Belegschaft der Freiwilligen stammt aus aller Welt, entsprechend international ist die Atmosphäre geprägt. Aussenstehende können hier ebenfalls verweilen, die Ruhe geniessen und meditieren. Ich beschliesse, in der Nähe zu zelten. „De bonne augurues“, sei dies, dass ich hier an diesem Ort gelangt bin. Er schenkt mir ein vom Dalai Lama geknüpftes Band. Lérab Ling ist einer der grössten tibetischen Tempel in Europa , 850 Meter hoch gelegen. Der Blick reicht bis zu den Pyrenäen. Im August 2008 hat der Dalai Lama den Tempel eingeweiht.
Am nächsten Tag suche ich einen geeigneten Platz, um in der Wildnis zu zelten. Da ich nichts Geeignetes finde, fahre ich bis zur Ortschaft Verreries-de-Moussans. Zwei Freundinnen, Célia und Frédérique, lassen mich im Garten zelten. Meine tibetischen Gebetsflaggen am Velo fallen ihnen sofort auf. Beide sind tibetische Buddhistinnen. Ihre beiden tibetischen Schosshunde bewachen mein Zelt. Die Gebetsflagge, die ich am Vortag gekauft habe, übergebe ich ihnen als Geschenk.
Der Vorzug einer Veloreise zeigt sich in den kleinen Begegnungen. Etwa in Lunas, wo eine Variante des Jakobsweges durchführt, und wo ich mit einem anderen Velofahrer ins Gespräch komme. Christian aus Lyon, der in den letzten 25 Jahren regelmässig nach Burkina Faso gereist ist, um dort mehrere Wochen als Freiwilliger zu arbeiten, ist begeistert. Die beiden älteren Damen nebenan, 78 und 90 Jahre jung, meinen, wir hätten uns viel zu erzählen gehabt. Sie erzählen mir ihre Geschichte. Ihr Vater sei aus Spanien ausgewandert, seither leben sie hier in Lunas.
In Carcassonne lege ich zwei Ruhetag bei Yves, einem Couchsurfer, ein. Yves ist Lehrer und hat einiges zu erzählen. Er ist Vater dreier erwachsener Kinder. Er hat Lebens- und Reiseerfahrung und entsprechend viel zu berichten. Auch hat er während Jahren in Hamburg gelebt und spricht perfekt Deutsch. Er weist mich darauf hin, dass Couchsurfing eine moderne Variante von Servas ist, dessen Erfolg mit der Verbreitung des Internet zusammenhängt. Demgegenüber hat Servas an Mitglieder eingebüsst. Zusammen mit Kerstin, einer deutschen Psychologiestudentin, besichtigen wir die Festung „La Cité“, wandern entlang am Canal du Midi, führen gute Gespräche und kochen zusammen. Yves, Danke vielmals für die tolle Gastfreundschaft !
Noch zwei Tage bis zur spanischen Grenze. Ich gehe nicht in Andorra über die Pyrenäen, da ich zuviel Verkehr befürchte, sondern weiter südöstlich über den Col de la Perche, zuerst an den beeindruckenden Gorges de St. Georges vorbei. Es ist nicht aussergewöhnlich, dass Leute aus Toulouse am Wochenende nach Andorra fahren, um sich mit Zigaretten einzudecken, die halb so viel kosten wie zuhause. Ich fahre die Passstrasse hinauf, dummerweise kann ich wegen der Hanglage nirgends zelten und muss in die Nacht hineinfahren, bis ich endlich hinter einem verlassenen Gebäude mein Zelt aufschlagen kann. Zum Kochen ist es zu spät. Ich verdrücke rasch etwas Salami, Käse und Brot.
Allez Richard !
Rufen mir Jan und Jan beim Abschied zu! Einen Bergpreis werde ich zwar nicht gewinnen, dennoch bin ich noch voller Eindrücke der zehn Radeltage durch wunderbare Gegenden Frankreichs zusammen mit Jan und Jan, die leider zu Ende sind. Seit dem 10. September bin ich wieder alleine unterwegs. Die Berge und Hügel der Rhônes-Alpes und der Provence liegen hinter mir.
Wir entscheiden uns für den Col de la Croix de Fer, 2067 Meter hoch. Mit einer Durschnittsgeschwindigkeit um die 8 km/h fahren wir langsam aber beständig rauf. Unterwegs machen wir eine Kaffeepause, lehnen dankend den Kräuterschnaps Génepi ab. Wir werden gewarnt, dass am Nachmittag heftige Gewitter aufziehen sollen. Im Skiort St. Sorlin-d’Arves wird es nochmals richtig steil, danach fangen die Serpentinen an. Und auch ein leichter Nieselregen fängt an, unangenehm zu werden. Er wird stärker , noch 3, dann 2 Kilometer bis zur Passhöhe. Ich wäge ab: es lohnt sich nicht mehr die Regenjacke hervorzuklauben, ich bin eh schon nass. Zum Glück ist es nicht allzu kalt. Also rauf im Regen und auf der Passhoehe in das Restaurant rein.
Jan ist bereits im Trockenen. Zum Glück ist es nicht sehr kalt und zu unserer Erleichterung lässt der Regen nach einer wohlverdienten Tasse Kaffe nach. Nebelschwaden ziehen an uns vorbei. Ab und zu bricht ein Sonnenstrahl durch und lässt magische Lichtstimmungen entstehen.
Nach dem Col de la Croix de Fer gönnen wir uns einen Ruhetag. Ganz untypisch in einem alten Wohnwagen, der auf einem Campingplatz steht. Jan mit seinen rund 1.90 Metern fühlt sich darin nicht so richtig wohl. Es soll aber regnen und den ganzen Tag warten wir darauf, dass es anfängt. Erst in der Nacht kommt dann der Regen. Macht nichts. Dafür können wir in der Sonne unsere Velos unterhalten.
Die Alpe d’Huez lassen wir aus. Vielleicht besser so. In der Zeitung lesen wir, dass ein Norweger auf der Abfahrt (mit dem Rennvelo wohlverstanden) unglücklich ausrutscht, unter ein entgegenkommendes Fahrzeug gerät und sich schwer verletzt. Die Alpe d’Huez ist, klärt mich Jan auf, „de nederlandse berg“. Tatsächlich haben, was die Etappensiege bei diesem Berg erster Kategorie angeht, die Niederländer die Nase vorn. Ein niederländischer Pfarrer soll zudem die Kirche im Dorf eingeweiht haben (oder so ähnlich…). Jeder zweite Niederländer weiss, wie viele Spitzkehren die Bergstrasse hat. Jedenfalls wimmelt es nur so von Niederländern. Nebenan vom Campingplatz wird sogar ein Hotel-Restaurant auf niederländisch geführt. Am Vortag wollen wir dort essen, die Serviertochter antwortet uns in gebrochenem Französisch: „je demander d’abord au coq !“. Aha ! Der Hahn ist aber schon zu Bett gegangen und will nicht mehr krähen bzw. kochen. Also zurück in das Wohnmobil aus der Epoche von Louis de Funès. Zwiebel, Rübli, Tomatenmark und Spaghetti ergeben ratz-fatz ein nahrhaftes Menü.
Frankreich hat so seine Eigenheiten. Eine davon scheint zu sein, dass die Franzosen fast durchwegs zuhause nur Filterkaffee trinken. Jan hat seine liebe Mühe, trotz riesiger Auswahl entsprechend gemahlenen Kaffee für seine Espresso-Maschine zu finden. Die andere Eigenheit ist, dass viele Geschäfte, insbesondere Epiceries in kleineren Ortschaften, am Mittwoch Nachmittag schliessen. Weil am Mittwoch schulfrei ist.
Die Fahrt mit Jan und Jan gestaltet sich sehr angenehm, Tempo und Tagespensum passen. Die Landschaften sind abwechslungsreich. Wir wählen, bezogen auf die Michelin-Karte, nur weisse oder gelbe Landstrassen, vorzugsweise zusätzlich grün (für landschaftlich reizvolle Strecken) gefärbt. Und solche, die durch Nationalparks führen. Etwa durch den Parc National des Ecrins. Oder den Parc Naturel Régional du Vercors. Kurvenreiche Strecken, sehr wenig Verkehr (ausser ein paar Motorradfahrer, die Jan alles andere als liebt…), tolle Landschaften.
Was eine Velotour durch Frankreich zu einem Erlebnis macht, ist sicher die Tour de France oder besser gesagt der Velosport, der den Franzosen viel bedeutet. Und was noch angenehmer ist, das gute Essen. Wir verwöhnen uns jeden Abend mit neuen Rezepten. Meistens gibt es eine Gemüsepfanne, Pasta und Käse. Und natürlich eine Flasche Wein. Unterwegs kaufen wir direkt vom Hof Ziegenkäse bzw. Tome ein. Zusammen mit einer Baguette ergibt das ein herrliches Mittagssnack.
Wir leben wie Gott in Frankreich. Einmal fragen wir Einheimische, ob wir im Garten zelten können. Zunächst noch etwas skeptisch, doch Albert und seine Ehefrau tauen sehr schnell auf, haben eine Riesenfreude an der Abwechslung der niederländisch-kanadisch-schweizerisch-italienisch-spanischen Gesellschaft. Albert bringt uns einen Campingtisch und Stühle raus. Danach trinken wir noch gemeinsam Tee. Frische Verveine aus dem Garten. Albert mag ihn gar nicht und macht keinen Hehl daraus. Albert und seine Ehefrau kennen sich seit der Schulzeit, beide sind Urgrosseltern, waren Schullehrer.
Heute sei die „rentrée“, Schulbeginn nach den Sommer-Ferien, gewesen. Das haben wir mitbekommen. In der Schlagzeile der Tageszeitung „Dauphiné Libéré“ war die Rede von 12 Millionen Kinder und Jugendliche, für die wieder der Halb-Ernst des Lebens anfängt. Irgendwie merkt man, dass Albert und seine Frau Lehrer waren. Man hört ihnen gern zu: „prennez cette route, vous allez vous régaler; non, le prochain col n’est pas méchant !“ Ausser im Winter, wenn sie in einer Wohnung in Grenoble sind, leben sie im schönen Landhaus von Albert, das bereits 300 Jahre alt ist und wo er zur Welt kam. Unsere Gespräche werden durch das neue Haustier unterbrochen: eine chauve-souris, eine Fledermaus, flattert durch die Küche. Seit zwei Tagen sei sie hier drin. Im Zelt sollen wir keine Angst haben, höchstens ein Dachs werde sich bemerkbar machen. Dachs auf französisch: le blaireau. Blaireau und vélo: der mehrfache Tour de France Sieger Bernard Hinault kommt ins Gespräch. Am nächsten Tag gibt uns Albert noch eine Flasche Wein mit: „Pour l’amitié.“ Sie bedanken sich nochmals, dass wir sie mit unseren Reiseerzählungen für ein paar Momente in die weite Welt entführen konnten. Merci à vous !
Unzählige Cols befahren wir, kleinere und grössere. Und ganz langsam ändert sich auch die Landschaft. Plötzlich ockerfarbene Steinhäuser mit hellblauen Fensterläden. Und dann ein angenehmer provenzalischer Duft: Thymian, Rosmarin, Lavendel. Lavendelfelder so weit das Auge reicht. Obschon die Ernte bereits vorüber ist, duftet es wie in einem Kräuterladen. Es gibt anscheinend zwei Arten von Lavendel: la lavande vraie ou fine und le lavandin. Erstere ist die noblere Variante, die zweite ist die ergiebigere. Beides ergibt jährlich 1’000 Tonnen ätherisches Öl lavandin und 90 Tonnen Öl lavande.
Hier ein paar Links:
www.grandes-traversee-alpes.com
Le „géant de la Provence“, dieser eigenartige Berg, windumtost, steinig und kahl, ohne jegliche Vegetation am Gipfel. Le Mont Ventoux. Noch so ein legendärer Berg der Tour de France. Wer hält den Rekord ? Marco Pantani ? Tragisch die Etappe 1967, an der kurz vor dem Gipfel Thom Simpson an einer Herzattacke starb. Hitze, Anstrengung, Müdigkeit und – angeblich Doping – waren zuviel des Guten.
Unglaublich wie beliebt dieser Berg bei Velofahrern ist. Es ist Freitag und es wimmelt nur so von Velofahrern. Von ganz verbissenen mit aalglatt rasierten und braungebräunten, sehnigen Beinen bis hin zu bierbäuchigen Gestalten mit hochrotem Kopf auf City-Bikes, die ihr Gerät mehr stossen als fahren. Was für uns nicht in Frage kommt. Jan fährt zur Hochform auf und erniedrigt einige Rennvelofahrer, indem er sie mit vollbeladenem Fahrrad überholt. Ich fröne meiner Leidenschaft, dem Fotografieren, und büsse dies nach jedem Fotohalt mit brennenden Beinen. Allez Richard ! Nach dem Mont Ventoux campen wir nochmals zusammen, in Malaucène verabschieden wir uns dann. Danke Jan und Jan für die tollen gemeinsamen Tage ! Das war ein unvergesslicher Start für mein bevorstehendes Abenteuer !
Im Paradies der „cyclo-grimpeurs“
In Lausanne gibt es zunächst einen Empfang durch den Stadtpräsidenten, den Syndic Daniel Brélaz. Von der Korpulenz und seiner Kravatte mit Katzen-Motiv her unverwechselbar. Der Empfang findet auf der Place de Palud statt, Punkt 10 Uhr fängt das Glocken- bzw. Soldatenspiel vor dem Brunnen an, wir warten daher. Obschon Mélanie und ich am Morgen rechtzeitig abfahren, unterschätzen wir etwas die Lausanner Steigungen. Wir schaffen es aber rechtzeitig, Marie von Helvetas wartet bereits auf uns. Der Empfang selber, ganz in der Nähe des Büros von Helvetas in der Rue de la Mercerie, fällt sehr sympathisch, unkompliziert aber dennoch feierlich aus. Ein Glas Waadtländer Weisswein gehört selbstverständlich dazu. Danach gibt es Kaffee im Büro der Helvetas. Danke Marie für die Organisation.
Danach nimmt Mélanie – zum Glück nur für wenige Wochen – Abschied von mir und steigt in den Zug nach Liestal ein. Ich statte den ehemaligen Lausanner Arbeitskollegen im Schadendienst noch einen kurzen Besuch ab. Um 14.30 dann endlich los Richtung Genf, wo ich eine Kollegin aus der Kunstgewerbeschule treffe. Ich habe sie seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen und es die Gelegenheit, kurz ein, fast zwei Jahrzehnte Revue zu passieren. Brigitte, merci beaucoup pour l’accueil sympa !
Kurz vor Veyrier sorgt ein Helvetas-Plakat für zwei Begegnungen. Als ich mein Velo vor dem Plakat ablichten möchte, grüsst mich ein Afrikaner, in rasanter Fahrt mit einem Kickboard etwas zu und zeigt auf das Plakat. „Yeahhh, je trouve ça bien ça, super !“. Ich frage ihn, woher er stamme. Aus Benin. Ja, dahin will ich hin. Er ist völlig aus dem Häuschen, schüttelt mir die Hand, kann es kaum glauben, gibt mir die Adresse seiner Tante in Cocotomé, was soviel heissen soll: Wald voller Kokosbäume. Ein Marokkaner auf einer Harley mit cooler Sonnenbrille und glitzerndem Helm fragt mich danach ganz scheu, ob ich Profifotograf sei. „Nein, wieso ?“ Er wolle seinem Sohn gerne ein Foto von sich und seiner Harley schenken. Vor dem Helvetas-Plakat posiert er trotzdem gerne für mich. Shukran !
Östlich von Annecy werde ich nächstentags von Jan und Jan erwartet. Ich habe sie 2006 in Kirgistan kurz vor der Grenze zu China nach dem Irkeshtam-Pass kennengelernt. Wir sind danach zusammen mit einem belgischen Paar nach Kashgar gefahren. Und seither haben wir den Kontakt aufrecht erhalten und sind in der Schweiz ein paar Alpenpässe und letztes Jahr von Amsterdam in die Schweiz gefahren. Sie sind soeben von einer über sechsmonatigen Velotour in Südostasien, China und der Mongolei zurückgekehrt (www.bikehiker.com) und eskortieren mich nun noch eine Weile, bevor sie sich in der Genfersee-Region niederlassen.
Um einen Monat lang einem Sprachunterricht in Annecy besuchen zu können, haben sie ein Appartement in Thônes gemietet. Die Besitzer, Laurent und Nadia, laden uns spontan ein, bei Ihnen zu übernachten. Wunderbar ! Die Nachbarn Thierry und Bernadette werden auch eingeladen und weitere Gäste kommen hinzu. Ein Barbecue mit viel Fleisch und ein Tisch voller Salate ist das Richtige, um in Form zu kommen. Laurent und Nadia leben in Thônes in einem sanft renovierten Bauernhaus, vermieten zwei niedliche Gästezimmer (www. gite-belfer.com), kennen sich in der Honigproduktion, Herstellung von Poterie und dem Pilzesammeln bestens aus und haben eine gesunde Lebenseinstellung.
Danach starten wir zu Dritt und nehmen wohlgenährt und gestärkt die ersten Hügel der Haute-Savoie in Angriff. Zunächst ein paar unbekannte und kaum grösser als den Chilchzimmersattel im Baselbiet, den Col de Marais, den Col de l’Epine. In Albertville, bekannt durch die Olympia-Winterspiele 1992, machen wir kurz Halt. Danach Camping im Tal. Am nächsten Tag dann der erste grosse Anstieg. Kräftezehrende 1’600 Höhenmeter mit vollbeladenem Velo. Aber wir schaffen es bis zum Col de la Madeleine auf 2’000 Metern. Und Jan verflucht all die Motorradfahrer. Nach einem selbstgekochtem Espresso, Käse und Brot geht es wieder runter. Um die Felgen zu schonen, halte ich vier, fünf Mal an und kühle sie mit Wasser ab.
Heute hatten wir einen Ruhetag. Oder auch nicht. Schuld daran war WiFi im Camping. Der moderne Reisende meint, alles im Vornherein organisieren zu müssen. Und so bleiben wir etwas zu lange im Netz hängen. 20 Kilometer fahren wir dennoch bis zur „La Maurienne, le plus grand domaine cyclable du monde“, wie für diese Stadt ganz unbescheiden Stadt Werbung betrieben wird: Saint-Jean de la Maurienne , dem „paradis des cyclo-grimpeurs“. So lange wie der Name sind auch die Alpenpässe, die von hier starten: Col de la Croix de Fer, Alpe d’Huez, Col du Galibier, Col du Télégraphe, Col de l’Iséran. Unverkennbar, dass diese Stadt eng mit der Tour de France und dem Velosport verbunden ist.
Überall Velos. Vor allem Rennvelos. Als Velo-Toureros sind wir hier eher die Ausnahme. In einem etwas in die Jahre geratenen Veloladen, „Cycles Solaro“, fallen mir handgemachte Laufräder auf. Die Speichen sind gebunden aber nicht gelötet. Alle würden löten, nur er könne dank spezieller Technik ohne Löten binden. Meine Aussage, wonach heutzutage handgemachte Laufräder mit gebundenen Speichen eine Rarität seien, kommt nicht ganz an. Trotzdem zeigt uns Tonda Louis stolz seine Werkstatt, sein selbst konstruiertes Rennrad fürs Zeitfahren, ein Foto mit persönlicher Widmung von Jacques Anquetil, einer Ikone der Tour aus den Sechziger-Jahren. Seit 65 Jahren fahre er Rad. Und heute morgen sei er auch unterwegs gewesen, mit einem 38er-Schnitt, allerdings sei es ein bisschen windig gewesen. Jan packt die Gelegenheit beim Schopf und lässt sein ausgeleiertes Tretlager auswechseln. Mal schauen, wo wir überall das neue ausprobieren werden. Bis dann !