Ausangate Traverse

In Cusco, der Hauptstadt der Inkas, deponiere ich rund vier Kilo Gepäck im Guesthouse. Für den Ausflug in die Gegend des Ausangate möchte ich möglichst leicht unterwegs sein. Auf diese Ausfahrt freue ich mich schon lange. Drei Stunden Busfahrt und drei Tage Bikepacking vom Feinstein. Das Leckerbissen sieht übrigens so aus: auf den ersten 30 Kilometern sind 1´500 Höhenmeter zu erklimmen, grösstenteils auf Wanderpfaden.
In Tinke verpflege ich mich, kaufe noch etwas Brot und Früchte ein und breche frohen Mutes auf. Es geht streng bergauf. Schon nach wenigen Kilometern ziehen wie üblich die nachmittaglichen Gewitterwolken auf, pünktlich wie ein Schweizer Uhrwerk. Bei einem der letzten Häuser fälle ich die Entscheidung: Zelt aufstellen. 
In dieser abgeschiedenen Gegend sollen Velofahrer und Wanderer regelmässig bestohlen werden, so etwa ein Tourenfahrer. Eigenartig, weil die Erfahrung zeigt, dass in dichten Siedlungsräumen die Kriminalität am grössten ist. Handelt es sich bloss um Kinderstreiche oder sind es die Berggeister, die Rache an die westlichen Touristen nehmen, die zu Tausenden tagtäglich Macchu Picchu in Beschlag nehmen?
 Ich gehe auf Nummer sicher und will deshalb, solange noch Häuser in Sichtweite sind, mein Zelt bei Einheimischen aufstellen. Alejandro, 32 Jahre alt, Vater von fünf Kindern, Alpaca-Züchter und Bergführer, meint, dass er auch Zimmer vermiete. Für einen Obolus von 10 Soles (3 Franken) wird mir ein Bett hergerichtet und ich kann beruhigt den Hagelsturm vorbeiziehen lassen. Ich bin bereits auf fast 4’300 Meter über Meer.
Während Alejandro später in die Stadt fährt, begleite ich seine Frau und die Tochter Viky, wie sie ihre Alpacas und Schafe eintreiben und spiele mit den Kindern Fussball.
Der jüngste Sohn führt mir stolz vor, wie er ein ausgedientes Laufrad mit einem Stück Draht lenkt. Ein Spiel, das ich oft in Afrika beobachtet habe. Ich kann die Faszination der Kinder für rollende Laufraeder sehr gut verstehen. 
Ich bin mir nicht sicher, ob die Familie bereits zur Ethnie der Q´eros gehört. Die Frauen tragen hier jedenfalls ihre traditionelle, bunte Kopfbedeckung und das Kleinkind auf dem Rücken, eingewickelt in farbige Tücher. Die entlegenen Dörfer der Q´eros liegen auf über 4´400 Meter in der schneebedeckten Vilcanota-Gebirgskette. Ich werde später einem solchen Weiler begegnen.
Die Menschen leben in ganz schlichten Lehmhütten in einfachsten Verhältnissen. Die Q´eros führen ihre Herkunft auf die ersten Inka zurück und waren die einzigen, die sich vor der Invasion der Spanier retten und ihre Traditionen bewahren konnten. Sie gelten als lebendige Zeugen einer vergangenen Inka-Kultur. Verehrt werden die Mutter Erde – Pachamama – und Berggeister, die Apu. Darunter der mächtige Apu Ausangate. Majestätisch ragt er im Hintergrund auf, während die Alpakas grasen und sich auf eine frostige Nacht vorbereiten. 
Der freundliche Alejandro lässt mir zum Morgenessen eine Omelette, Käse, Kartoffeln und einen Mate de coca zubereiten, will aber nichts dafür. Bei Sonnenschein fahre ich direkt dem Ausangate zu. Mit 6´384 Metern ist er der höchste Gipfel der Cordillera Vilcanota. Erstmals wurde er 1953 von einer Gruppe Bergsteigern, einschliesslich Heinrich Harrer, bezwungen.
Nach einigen Kilometern gelange ich nach Upis, wo sich Thermalbäder befinden und heisse Quellen blubbern und Schwefelgeruch ausbreiten – und eben auch ein Velofahrer bestohlen wurde – Link. Jetzt fängt die Trekkingroute an und für mich “hike a bike”. Ich bin wortwörtlich erleichtert, einige Kilos Material in Cusco deponiert zu haben. Fahren ist nicht mehr möglich, immerhin muss ich das Stahlross nicht tragen, sondern kann es noch stossen und schieben. Zu meiner Linken türmt sich das vergletscherte Felsmassiv auf. Der Anblick entschädigt für die Strapazen. 
Auf dem ersten Pass, dem Abro Arapu auf 4´800 Metern, geniesse ich die Aussicht. Ein Bergführer mit seinen drei Pferden kommt mir entgegen. Er komme grad vom Rainbow Mountain, ein bei Touristen beliebtes Ausflugsziel, das von Cusco aus in einem Tag absolviert wird.
Es ist Mittag und Wolken ziehen wie bestellt auf. Ich fahre einem Alpaka-Trampelpfad runter, bin unschlüssig, ob ich das Zelt aufstellen soll. Ich wage es, trekke runter bis zur Laguna Pucacocha, wo ich zu allem Übel einen Fluss furten muss. Mittlerweile bin ich geübt darin – Island sei Dank. Das Rad dient als Stütze für meine Arme und wird vorsichtig nach vorne bewegt, während ich meine Füsse von Stein zu Stein balanciere. 
Mit Erleichterung mache ich am Himmel blaue Flecken aus. Die dunklen Wolken verziehen sich und ich kann den zweiten Pass, den Abro Apuchata (4´900 Meter) in Angriff nehmen. 
Wieder geht es ständig rauf, mit viel Kraft zerre ich das Rad über das unwegsame Gelände. In dieser Höhe ist Hektik fehl am Platz. Ich führe die Bewegungen in Zeitlupe aus, damit mir die Puste nicht ausgeht.
Es geht vorbei an Alpaka-Herden, die ruhig vor türkisfarbenen Lagunen grasen und ihre neugierig-vorsichtigen Blicke auf mich richten. Endlich erreiche ich ausgelaugt und müde nach fünf Uhr die Passhöhe.
Da es um sechs bereits dunkel wird, suche ich rasch einen Zeltplatz oberhalb der Höhe in einer Senke. Seit sieben Uhr morgens war ich unterwegs, habe nur kurze Essens-Pausen eingelegt, und bin dabei nur 23 Kilometer vorwärts gekommen. Ich stimme damit überhaupt kein Klagelied an. Im Gegenteil: inmitten dieser grandiosen Berglandschaft empfinde ich diese Mischung aus Anstrengung, meditativ-kontemplativem Vorwärtskommen und Einsamkeit als beruhigend und erfüllend. 
Die Nacht überstehe ich gut, trotz des gelegentlichen Krachens der Gletschermassen, das mich ab und zu erschaudern lässt. Wiederum ist der Himmel am Morgen klar. Die ersten Sonnenstrahlen beleuchten den Gletscher und ich geniesse meinen morgendlichen Kaffee und bin voller Freude auf die Aussicht – auf das Bergmassiv und die bevorstehende Abfahrt. 
Steil geht es runter zur Laguna Ausangatecocha. Sicherheitshalber wechsle ich vorher die Bremsbeläge aus. Alpakas fliehen vor mir. Vor der Kulisse aus Fels, Eis und Schnee geben sie schon fast ein kitschiges Bild ab. 
Der Weg führt mich nun zunächst durch ein Sumpfgebiet, danach entlang von Furchen, das von Lama- und Alpakaherden stammen. Die Berge im Hintergrund nehmen rötliche Farben an. 
Ich komme an einer Q´ero Siedlung (?) vorbei und begebe mich hinunter ins Tal, wo ich nach einigen Kilometern zur “Hauptstrasse” gelange. 
 
Auf dieser flachen Schotterpiste geht es nun mehrheitlich leicht bergab, entlang von Felsschluchten, Terrassenfeldern und verschlafenen Siedlungen.
Vor Pitumarca holt mich dann der Regen ein. Ich entscheide, noch bis zum Cusco-Puno Highway zu radeln, wo ich dann in einem Minivan rasch eine Mitfahrgelegenheit nach Cusco finde.
 
Zwei Stunden später, in strömendem Regen, bin ich wieder an der Plaza de Arma, umgeben von hochpreisigen Restaurants, McDonald’s, Starbucks, Wechselstuben, Reisebüros und Frauen, die den müden Inka-Trail-Wanderern Massagen anbieten. Fazit: ein kleines, aber äusserst eindrückliches Nutshell-Abenteuer! Man soll aufhören, wenn es am Schönsten ist. Deshalb werde ich nun bald Peru verlassen. Vorher werde ich aber noch ein von Eco-Solidar unterstütztes Projekt besuchen. Ich bin gespannt darauf! 
 

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