Ruta de los Volcanes

Nach den Festlichkeiten der Mama Negra in Latacunga und einem Ruhetag nehme ich den Bus rauf zum Vulkankrater Quilatoa. War ich beim Cotopaxi noch auf der Cordillera Central, befinde ich mich jetzt in der Cordillera Occidental, auf der anderen Seite des Hochtales. Ich kann grad noch ein paar Bilder schiessen, bevor der Himmel sich schliesst und Nebel aufzieht. Und dieses winterliche Wetter wird am nächsten Tag so bleiben, sodass ich mich nicht motivieren kann, weiterzuziehen.
Nach zwei Übernachtungen suche ich dann aber doch das Weite. 8 Grad kalt, es kommt mir vor wie an einem Morgen im Spätherbst. Warm angezogen rase ich bis nach Zumbahua runter, wo ich mich noch verpflege. Erstaunlich, dass hier an den Marktständen in dieser Höhe auf rund 3´500 Metern so viele tropische Früchte verkauft werden. Frauen frittieren hier Fisch und Empanadas, die Hunde warten schon sehnsüchtig darauf, die Reste verschlingen zu können.
Die asphaltierte Strasse, die an dieser Ortschaft vorbei führt, geht direkt runter zur Costa, dem westlichen Küstenbereich, wo sich die Fruchtplantagen befinden. Und auf dieser Strasse werden sie in die Sierra, die zentrale Andenregion transportiert. Es wird ein angenehmer Radeltag, an dem ich auch so etwas wie einen Rhytmus finde. Nach Zumbahua zunächst eine gleichmässige Steigung von 8 Kilometern. Danach verlasse ich den Asphalt und biege auf eine gute Piste ab und steige noch bis auf 4´100 Metern rauf. 
Wie der Elefant und die Giraffe zum afrikanischen Busch gehören, kann man sich die Anden nicht ohne Andenkamele vorstellen. Diesen begegne ich hier immer wieder. Es gibt ja vier Arten derer: Lamas, Guanakos, Alpakas und Vikunjas. Ich muss mich präzisieren, ansonsten reissen mir Biologen den Kopf ab. Die Lamas bilden mit den Vikunjas die Gattungsgruppe der Neuweltkamele. Jedenfalls sind die Lamas, die ich sehe, die vom Guanako abstammende Haustierform.
Ebenfalls sind in dieser Gegend viele “chozas” zu sehen. Einfache Behausungen aus Lehm mit Strohdächern. Oftmals sind es leerstehende Schutzhütten für Hirten – und vom Regen oder der Dämmerung fliehende Radler. 
Die Sonne will nicht recht rauskommen. Im Gegenteil. Ich bin so hoch, dass oft Nebelschwaden vorbeiziehen und die Landschaft in ein geheimnisvolles Kleid einhüllen.
Auf der letzte Passhöhe, bevor es runter zur Kleinststadt Angamarca geht, erzählt mir ein Chauffeur, dass es dort “los italianos” gebe. Ich komme bereits um 15 Uhr an, es findet zufällig grad der Wochenmarkt statt. Ansonsten wirkt die bei näherer Betrachtung gar nicht so hässliche Ortschaft sehr verschlafen.
Ich finde ein einfaches Hospedaje mit Küche, jedoch kein Wifi. Zum Glück, denn so habe ich Zeit, herumzuspazieren und mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Ein Leichtes im Vergleich zur anonymen Grosstadt. Etwa mit der 82-jährigen Teresa und deren Nachbarin. Sie ist geistig sehr fit und erzählt mir, dass sie einen Sohn habe aber nie verheiratet war, weil der Partner sie für eine andere verlassen habe. Immerhin hat sie heute sieben Enkelkinder. Sie redet immer wieder gut über die Italiener, die hier Freiwilligenarbeit verrichten. Und über den ehemaligen italienischen Pfarrer. Aber ich soll nicht alleine in das Gebiet des Paramo reisen, dort sei einmal eine gringa verstorben. 
“Los italianos” sind nicht in der Pfarrei, sondern unterwegs und kommen erst um Mitternacht an. Auf dem Dorfplatz vergnüge ich mich mit den Menschen. Ein Mikrokosmos, mit Protagonisten wie aus einer Erzählung: Dorfpolizist, Dorftrottel,  Besoffener, Schönling, Mechaniker, Jüngling, das gutgelaunte Mädchen, der Greise, die Marktfrau, der Sonderling. Jeder kennt jeden. Alle wissen über alle irgendeine Geschichte zu erzählen.
Am nächsten Morgen ist es wechselhaft. Soll ich es wagen, hoch in die Berge zu reisen ? Ich bin unschlüssig, suche die Pfarrei auf, wo ich den jungen Giacomo aus Vicenza und Erika aus Brescia kennenlerne. Giacomo bereitet mir echten italienischen Kaffee zu und wir plaudern lange. Er sei einmal mit dem Velo von Vicenza nach Holland geradelt und habe in Basel Halt gemacht. Er sei in Südamerika am Reisen gewesen und ist jetzt hier seit Februar hängengeblieben und hat sich verpflichtet, zwei Jahre lang mitzuhelfen. Es klopfen immer wieder Einheimische an: eine benötigt Saatgut, der andere braucht Unterstützung beim Bau eines Daches. Um zehn Uhr breche ich auf und mein langes Tagewerk beginnt. 
Zunächst eine Abfahrt runter auf 2´800 Metern, dann rund 1´000 Höhenmeter rauf. Drei Stunden später gönne ich mir ein kurzes Mittagessen und es geht weiter. Der einzige motorisierte Verkehr, ein Kleinlastwagen, begegnet mir, als ich bereits ganz oben bin. Tja, zu spät. Ich bin jetzt schon oben.
Hier oben leben die Menschen in einfachen chozas, völlig abgeschieden. Und ist Angamarca bereits eine andere Welt im Vergleich zu einer Stadt im Hochtal, stellt das harte Leben in den abgeschiedenen Weilern nochmals eine andere Lebensform dar: harsch, karg, fordernd. Ich mag nicht daran denken, falls hier mal ein medizinischer Notfall eintreten sollte. Alleine vier Stunden Fussmarsch sind es bis Angamarca. Und wo gehen die Kinder zur Schule? Geniessen sie überhaupt eine Schulbildung, die diesen Namen verdient? Wahrlich kein Zuckerschlecken, als Kind hier aufzuwachsen. 
Ich komme mir vor, als sässe ich in einem Flugzeug und würde auf die Wolkenfelder runterblicken, so hoch bin ich hier im Paramo. Immer wieder Nebelschwaden, eine Abfahrt, dann wieder eine Steigung, ein kleiner Wasserfall, rosa Blumen. Ich begegne immer wieder Kindern, die Schafe oder Kühe hüten, begleitet von Lamas und Hunden. Kinder haben hier keine andere Wahl als mitzuhelfen. 
Es wird ein langer Tag. Noch 10 Kilometer bis Simiatug, es ist fünf Uhr. Ich frage mehrmals nach, ob ich auf dem richtigen Weg bin. “Si, es todo bajada”, alles Abfahrt, heisst es. Das sollte man nicht allzu wörtlich nehmen, denn es verstecken sich noch 400 Höhenmeter in dieser Abfahrt. 
Das Landschafts-und Wolkenspektakel in der Dämmerung mit Blick runter zur Costa ist zwar wundervoll. Doch es steht mir noch ein holpriger Abstieg bevor und, als es bereits dunkel ist, noch ein drei Kilometer langer Anstieg, begleitet von einer Schar von bellenden Hunden, die sich nur durch das grelle Licht der Stirnlampe in Schach halten lassen. Auf die letzten Höhenmeter hätte ich gerne verzichtet. 
Endlich in Simiatug angekommen, quartiere mich im einzigen Hospedaje für 8 Dollar ein, sauber und mit warmem Wasser. Obschon Samstag ist, scheint nicht viel zu laufen. Eine Handvoll Jungs spielt im Parque vor der kleinen Kirche in der Kälte Volleyball, das hier beliebt zu sein scheint. In einer Kneipe ist eine Tochter daran, ihren sturzbesoffenen Vater, der das Reisgericht auf den Boden verschüttet hat und mit dem Kopf auf dem Tisch eingeschlafen ist, nach Hause zu zerren. Als er endlich nach draussen befördert worden ist, kann ich endlich meine Bestellung aufgeben. Da ausser weissem Reis nicht mehr viel übrig ist, bereitet mir die Köchin eine Tortilla aus Eiern, Peperoni und Zwiebeln. Im Restaurante de pasajeros um die Ecke gönne ich mir anschliessend noch eine Suppe aus Maniok. Der Besitzer erkennt mich, er hat mich oben gesehen und mir dort bestätigt, dass alles “bajada” sei. Ich muss grinsen.
Ich bin am nächsten Morgen enttäuscht, da es wieder bewölkt ist, trotz des klaren Nachthimmels. Doch es klart dann ploetzlich auf. Ich nehme mir daher eine Camionetta nach Yuruk-Uksha. Vielleicht kann ich so noch einen Blick auf den Chimborazo erheischen?
Von dort fahre ich dann nach Pachancho, einer Wild-West-Siedlung bestehend aus etwa 15 Häusern und  – welch eine Überraschung – einer kleinen Käserei mit rezentem Käse. Für 2.5 $ nehme ich mir einen kleinen, vorzüglich schmeckenden Laib mit. 
Esfolgt ein Anstieg und oben angekommen erblicke ich endlich den Chimborazo, mit 6’627 Metern der höchste Vulkan Ecuadors, leider etwas verdeckt. Im Hintergrund türmen sich bedrohliche Gewitterwolken auf. Die Landschaft hier ist sehr karg, die Vegetation besteht aus Grasbüscheln, Horstgräsern, Flechten und Kräutern. 
 Das Lichtspektaktel ist zwar sehr pittoresk, im Vordergrund noch Sonnenschein, dann sogar eine Herde Vikunjas (oder doch Alpakas ?).
 
Aber ich muss jetzt Gas geben, wenn es mich hier oben auf 4´300 Meter erwischt, wird es ungemütlich. Endlich erreiche ich die Kreuzung mit der Asphaltstrasse, in der Ferne ist frisch gefallener Schnee zu sehen. Ich warte bibernd am Strassenrand und halte den nächsten Bus nach Riobamba an. Dort angekommen fahre ich gleich nach Cuenca weiter, wo ich sechs Stunden später um zehn Uhr nachts, muede vom Geballer der nonstop laufenden Actionfilme, ankomme. 
 
Die nächsten Kilometer werde ich erst wieder in Peru radeln. Zunächst freue ich mich aber, ein Projekt von Ecosolidar im Zusammenhang mit Kinderarbeit in Aguas Verdes gleich nach der Grenze zu besuchen. Ecuador ist ein sehr vielfältiges Land – die Küstenregion, la Sierrra, der Amazonas und die Galapagos-Inseln, von dem ich nur einen Bruchteil gesehen habe. 
 
Doch schon jetzt steht fest, dass ich mit Ecuador tolle und intensive Radelerlebnisse verbinden werde und zumindest einen kleinen Einblick in das Hinterland erhalten habe. Los empedrados – die Kopfsteinpflaster – und die kläffenden Hunde werde ich allerdings nicht vermissen. 

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