Snap me, Nollywood !

Benin City, Nigeria. Einige Kilometer von der Stadt entfernt, am Rande eines Dorfes, umgeben von üppigem Wald, Bananen- und Palmenplantagen. Es ist kurz vor Mittag, heiss und feucht. Der zu gross geschnittene Soldatenanzug  mit dem „Anarchy“-Abzeichen am Arm beisst am ganzen, verschwitzten Körper. „ Mark it“, schreit Direktor Lancelot O. Imasuen. „Sound“, antwortet BBC, der Junge mit dem Clap-Board. „Rollin“ ist von irgendwo weiter entfernt in reinem  indischen Akzent zu vernehmen. „Aaaktschion“. Einige Momente Stille. Ich führe eine Gruppe von afrikanischen Soldaten an, die zwei riesige Elfenbeinzähne tragen. Wir verlassen einen Palast, ich halte vor Captain Rupert und einem anderen englischen Soldaten an, die sich kurz unterhalten.  „Hoist the flag !“, befiehlt mir danach Roupert. „Yes, Sir“ antworte ich. „God save the Queen!“ schreit der andere Soldat. „God save the Queen !“ antworte ich. „Cuuuut“ meldet sich nun wieder Lancelot.

Rückblick. Republik Benin, Cotonou. Meine Freundin Mélanie besucht mich, die zwei Wochen vergehen wie im Flug. Käse, Biskuits und Biberli sind schnell verputzt. An dieser Stelle ein grosses Dankeschön an alle, die am Fresspaket mitgewirkt haben. Wir kommen bei den Soeurs de la Providence unter. Die Zimmer sind peinlich sauber gehalten, alles funktioniert einwandfrei, nichts ist kaputt. Unüblich in dieser Preiskategorie. Am dritten Tag vermag uns während der Nacht ein Gewitter nicht zu wecken. Um 5 Uhr entdeckt aber Mélanie beim Toilettengang, dass unser Zimmer unter Wasser steht. Es bleibt ein Rätsel, woher das Wasser eingetreten ist. Vielleicht Vodoo-Kräfte ?  Jedenfalls verbringen wir die nächsten zwei Stunden zusammen mit Soeur Christiane, den Boden trocken zu kriegen.

Wir beschränken uns auf kleine Ausflüge in Cotonou: zum Strand, zu den Marchés Dantokpa und Saint Michel, und zum Pfahldorf Ganvié. Eine Stadt ganz auf Wasser. Wir sind dank des Reiseführeres „Petit Futé“ vorgewarnt. Etwas zu touristisch. Immerhin sind die Preise für den Ausflug mit der Piroge fix, mühsame Verhandlungen entfallen. Na ja, nicht ganz, denn der Guide ist obligatorisch und dessen Sold ist frei verhandelbar.  Nachdem ich mich vergewissert habe, dass die Tour eineinhalb Stunden dauert, vereinbaren wir  5‘000 CFA, westafrikanische Francs, umgerechnet zehn Schweizerfranken – ein stolzer Preis. Nach exakt 34 Minuten meint der etwas wortkarge „Guide“, die Tour sei beendet, lädt uns in einem Souvenirshop ab und haut sich für eine halbe Stunde aufs Ohr, bevor wir wieder mit der Piroge zurückfahren. Andere müssen für die gleiche Summe wesentlich mehr arbeiten. Etwa der Schneider, bei dem wir uns aus den bunten Wax-Tüchern ein Kleid, Hemd und Hose nähen lassen.

In Cotonou ist das Fortbewegungsmittel Nummer eins das „Zem“, abgekürzt für Zemidjan, Motorräder chinesischer Herkunft, auf denen ohne weiteres vier Leute Platz haben, notfalls sogar 6. Die Fahrer sind an den gelben Hemden zu erkennen. Um die 40‘000 sollen alleine in Cotonou rumkurven.  Die Fahrt ist manchmal haarsträubend, überholt wird von allen Richtungen. Erstaunlicherweise passieren aber wenig Unfälle. Abgesehen von den Zem-Fahrten sind wir aber ziemlich bewegungsfaul. Den Körper an das tropische Klima anzugewöhnen, ist für mich schon Anstrengung genug. Anfangs habe ich Hitzewallungen und Schweissausbrüche, mit der Zeit geht es dann etwas besser.  Vorzugsweise suchen wir den Ventilator im Zimmer auf, das wir aber  bei den praktisch täglichen Stromunterbrüchen fluchtartig verlassen, um danach die vor dem Balkon vorbeiziehenden Zem’s zu zählen. Wenn es ruhig ist, sind es 60 Stück pro Minute, ansonsten gut  90 !.  Während der Ostertage dann ziehen Prozessionen von weissgekleideten Menschen, tanzend und Musik spielend an uns vorbei, um uns 5 Uhr morgens aus dem Schlaf zu entreissen.

Nach zwei Wochen ist es dann wieder Zeit, um schweren Herzens von Mélanie Abschied zu nehmen. Merci beaucoup Mélanie ! Passend dazu fängt es am nächsten Tag an zu regnen. Die Regenzeit hält langsam Einzug. Die Regenschauer kommen so plötzlich wie sie wieder verschwinden. Nach nur 6 Kilometern muss ich mich beim Institut Français in Schutz bringen und kann erst nach eineinhalb Stunden meine Fahrt wieder aufnehmen. Regenklamotten bringen nichts, nur Schutz unter einem Vordach oder einer Strohhütte und warten, bis sich der Schauer verzogen hat. Von Cotonou sind es rund 50 Kilometer bis nach Porto Novo, der Hauptstadt von Bénin, danach rund 100 Kilometer wieder Richtung Norden nach Kétou.  Von hier will ich nach Nigeria einreisen. Rob und Sarah, ein englisches Paar, berichten in ihrem Blog von ihren nicht gerade ermunternden Erfahrungen mit den nigerianischen Grenzbeamten.

Marie-Josée, der Besitzer der Auberge in Abomey, hat mir von diesem Paar berichtet, da sie ebenfalls mit Fahrrädern unterwegs waren, die sie in Benin gekauft haben, um sie vor der Einreise in Nigeria wieder zu verkaufen. Ich hatte mir deren Namen notiert, deren Blog ausfindig gemacht und wollte sie später kontaktieren, um aktuelle Informationen aus  erster Hand zu erhalten. Eine Couchsurferin aus Ibadan in Nigeria, die ich um eine Übernachtungsmöglichkeit anfrage,  kommt mir aber zuvor. Rob und Sarah befänden sich gerade bei ihr. Was für ein Zufall !

Eines ist sicher, Nigeria hat einen schlechten Ruf. Schon beim Namen winken die meisten ab. „Ist es nicht zu gefährlich, durch Nigeria zu reisen?“, werde ich oft gefragt. Korruption, schikanierende Polizisten und mörderischer Verkehr. Im Norden Nigerias sorgt die Extremistenorganisation Boko Haram mit Bombenattentaten für negative Schlagzeilen. Im Niger-Delta hingegen gab es zahlreiche Entführungen von Mitarbeitern von Erdölgesellschaften. Beide Regionen liegen nicht auf meiner Reise-Route. Nigeria, Afrikas China, Westafrikas mächtigster und reichster Staat mit 150 Millionen Einwohnern, wird von Touristen wie die Pest gemieden. Dementsprechend habe auch ich gemischte Gefühle, mache mich auf alles gefasst. Zu meiner Beruhigung habe ich ein „multiple entry“-Visa für Benin ausstellen lassen. Im Notfall kann ich immer noch umkehren. Ich bin gespannt, ob die Nigerianer wirklich so böse sind.

Als ich in Kétou starten möchte, regnet es. Ich verschiebe die Einreise nach Nigeria auf den nächsten Tag, denn mein Tagesziel, die 110 Kilometer entfernte Stadt Abeokuta, scheint durch die zeitraubenden Formalitäten an der Grenze und die zahlreichen Checkpoints , zu weit weg. Am nächsten Tag bin ich pünktlich um 9 Uhr und nach 30 Kilometern an der Grenze Benin – Nigeria. Bretterbuden an beiden Strassenrändern, der erste Eindruck eines der reichsten westafrikanischen Staaten ist eher schäbig. Geldwechsler warten darauf, dass ich meine restlichen westafrikanischen CFA in Naira wechsle, bevor  ich mich zum Schlagbaum begebe.  In der Strohhütte nebenan heisst es, ich solle mich zum Immigration Office begeben, das  irgendwo im Innern dieser Siedlung versteckt liegt. Ich werde dorthin geführt, folge einem Nissan auf der holprigen Piste. Das Büro befindet sich am Stadtrand am Rande eines üppigen Waldes. Der Angestellte empfängt mich. Ein nackter Saal, ein kleiner Holztisch, zwei Stühle, ein Standventilator, ein Fernseher, der irgendwelche nationale Nachrichten sendet. Ich fülle ein Formular aus. Er verlangt umgerechnet 5 Franken als Gebühr, um meinen Pass zu kopieren. Da er bemerkt hat, dass mein italienischer Pass weder Visum noch Austritts-Stempel von Benin aufweist, er aber meine Erklärung, wonach ich zwei Nationalitäten und zwei Pässe habe, ohne weiteres akzeptiert, händige ich ihm meine restlichen CFA aus. Am Schluss meint er: „Do you have a gift for me ?“ „For sure, wait a minute, please“. Ich gehe zum Velo, hole eine Packung Schweizer Rahmtäfeli, halte sie ihm hin. Natürlich nicht die ganze Packung, es seien nämlich spezielle Täfeli, aber er dürfe sich immerhin eine Handvoll der Süssigkeiten schnappen, präzisiere ich. Er schaut mich mit grossen Augen an, nimmt sich ein paar Bonbons und bedankt sich brav.

Nach einigen Kilometern folgen dann weitere Formalitäten, vier Blockhütten. Gelbfieberkarte, Gesundheitsdienst, Immigration Officer, Security State Service. Die Beamten sind nicht unfreundlich, aber langatmig, zeitraubend. Das Thermometer steigt, heute ist ein Hitzetag, kein Regentag.

Um 12 Uhr habe ich 40 Kilometer auf dem Tacho. Endlich geht es – vermeintlich – los. Aber schon nach einigen Kilometer der erste Checkpoint: Militär. Nach einem Kilometer wieder Security Service, danach Immigration, gefolgt von Police, später wiederum vom Militär. Und klar, jeder will den Pass sehen. Fünf Kilometer fahren und das Spiel fängt von vorne an. Eine Pause kann ich mir nicht gönnen, ich will unbedingt am Abend Abeokuta erreichen, Geburtsort des exzentrischen Musikers Fela Kuti, dem King des Afrobeat. Um 17 Uhr retten mich zwei Power Riegel, eine Isostar-Tablette und eine Orange, die ich innert Sekunden verschlinge. Ich verliere keine Zeit, nehme den Endspurt in Angriff. Heute war ein langer Tag. Endlich, um 18 Uhr dann Abeokuta in Sichtweite. Ich fahre durch Vororte, der Verkehr wird dichter, lärmiger. Um 18.30 dann nehme ich kurzentschlossen ein Taxi, packe mein Velo und meine Siebensachen in den Kofferraum und lasse mich vor dem Hotel Frontline chauffieren. Ich habe keine Lust, in der Dunkelheit müde in einer Grossstadt herumzuirren. Um 19 Uhr ist es bereits dunkel, die Abenddämmerung  dauert hier nur wenige Minuten, der Wechsel von Tag zu Nacht ist abrupt. Nebenan kaufe ich noch schnell eine Ananas ein, den ganzen Tag schon habe ich Lust darauf. Ich koche im Zimmer, während im Fernsehen das Fussballspiel Chelsea gegen Real Madrid läuft. Und diesmal kann der ivorianische Spieler Drogba zur Freude der Afrikaner ein Goal gegen die Spanier schiessen.

Am nächsten Tag geht es früh los, mit nüchternem Magen. Unterwegs werde ich, wie in West-Afrika üblich, in irgendeinem Bretterbudenstand einen Milchkaffee und eine Omelette schon finden. Weit gefehlt. Ibadan ist die nächste Station, eine riesige Stadt, über 6 Millionen Einwohner. In den 60er Jahren war Ibadan die grösste Stadt Westafrikas. Ich frage nach dem Weg, doch das Pidgin English der Nigerianer, das „anglais cassé“, ist schwer verständlich. „How far“ heisst etwa „How are you“. Gerade als mir durch den Kopf geht, dass Nigeria entgegen allen Befürchtungen bis anhin gar nicht so schlimm war, winkt mir am Strassenrand ein Herr in Hemd und Hose aus den bunten Wax-Tüchern zu. Ich bin mir gewohnt, dass Leute mich oft anhalten wollen, um mit mir zu reden. Ich winke ihm zu, lächle und mache einen Bogen um ihn, besser gesagt, ich versuche es. Er reisst mich an meinem Hemd, ich falle zu Boden, schlage mein linkes Knie auf,  der Mercedes hinten mir kann gerade noch ausweichen. Erst jetzt bemerke ich, dass der Typ eine Knarre mit sich führt. Er entschuldigt sich sofort, meint aber, er sei vom SSS, „Security State Service“. Toll, woher soll ich das wissen, jedenfalls sieht man das seinem Pyjama-Anzug nicht an. Ich werde gegenüber in den Komplex des SSS abgeführt. Offenbar bin ich von weitem erspäht worden. Und wieder darf ich das doofe Formular ausfüllen, das ich bereits an der Grenze ausgefüllt habe. Die gutgekleideten jungen Beamten scheinen unterbeschäftigt zu sein. Man entschuldigt sich für den Vorfall, will sogar eine Krankenschwester für die Prellung am Knie herbeiholen. Nach einer Stunde werde ich mit vor Wut und Hunger knurrendem Magen wieder entlassen. Sicherheitshalber frage ich nochmals nach der kürzeren Route nach Ibadan. Ich sei auf der richtigen Strasse, alles geradeaus, sichern mir die Sicherheitsbeamten zu.

Nach 35 Kilometer ein Regenschauer, ich bringe mich, wie alle anderen auch,  bei einer Tankstelle in Schutz, fange an zu reden. „Du willst nach Ibadan? Wieso fährst Du dann einen solchen Umweg ?“ Danke SSS. Glücklicherweise kann ich von dort eine Abkürzung zum Lagos-Highway nehmen. Als ich um 14 Uhr auf diese stark befahrene Autobahn treffe, noch schätzungsweise 50 bis 70 Kilometer von Ibadan entfernt, treffe ich die einzige vernünftige Entscheidung:  Autostopp. Ich lasse mich von einem Kleinbus in die Stadt reinfahren. Der Highway ist in miserablem Zustand, voller Schlaglöcher. Auf dem Mittelstreifen finden sich ausrangierte, ausgebrannte Lastwagenwracks. Die bulligen amerikanischen Mack Trucks sind hier die Könige der Strasse,  müssen viel einstecken, meistens fahren sie links, wo die Strasse noch ein bisschen besser ist, überholt werden sie rechts. 95 % der Exporteinnahmen von Nigeria stammen vom Erdöl. Trotz des Reichtums am schwarzen Gold ist aber die Infrastruktur unterentwickelt. Die NEPA, National Electricity Power Authorithy, liefert nur unregelmässig Strom, Power Cuts sind an der Tagesordnung, Stromgeneratoren weitverbreitet.

Wir fahren nach Ibadan rein, ein Meer von zweistöckigen Häusern mit rostbraunen Wellblechdächern. Es ist nicht leicht, sich in dieser riesigen Stadt zu orientieren. Ich bestehe bestimmt darauf, dass mich der Fahrer wie vereinbart zum Mokola Roundabout führt. Ich habe keine Lust, im dichten Verkehr der Grosstadt noch Extrarunden zu drehen. Ich lasse meine neu erstandene SIM-Karte registrieren, inklusive Fingerabdrücke und Foto. Danach mache ich mich auf die Suche nach der Bleibe von Bimbo, die ich über  Couchsurfing kennen gelernt habe. Ich bin heilfroh, in dieser Riesenstadt einen Kontakt zu haben. Erst noch in einem ruhigen Residenzquartier. Dank Bimbo und ihren Freunden erlebe ich ein Nigeria, wie ich es sonst nie zu Gesicht bekommen hätte.


Bimbo unterrichtet Phonetik am Department of Theatre Arts der UI, wie die University of Ibadan, die älteste im Land, genannt wird. Der Universitätscampus ist riesig, über 2 Kilometer lang, mit eigenem Zoo. Die Gebäude architektonisch reizvoll, mehrheitlich durch den britischen Architekten Maxwell Fry entworfen, der auch mit Le Corbusier zusammengearbeitet hat.  Zufällig findet gerade an diesem Wochenende die“ 38th Initation Ceremony“  der Association of Theatre Arts Students statt. Die Feuertaufe der neuen Theater-Studenten, ein alter Brauch. Vor dem Theatersaal wird ein grosses Feuer entfacht, die weissgekleideten Studenten treten ein und im brütend heissen Saal verausgaben sie sich zwei Stunden lang. Mir genügt bereits eine halbe Stunde Rumstehen, um danach schweissgebadet draussen etwas Abkühlung zu suchen.

Nigeria ist ein faszinierendes Land. Das Land kann durch die zwei Flüsse Niger und Benue, die ein Y formen, grob in drei kulturelle Zonen eingeteilt werden: im Südwesten leben die Yoruba, im Südosten die Igbo und im Norden die Hausa. Der Norden ist islamisch geprägt, der Süden christlich-animistisch. In der Realität sind die Ethnien und Sprachen einiges komplexer. Über 500 verschiedene Sprachen werden in diesem riesigen Land gesprochen. Nigeria ist im Unterschied zu den meisten westafrikanischen Ländern weiter entwickelt. Es gibt viele Tankstellen, keine Holzstände am Strassenrand, in denen in Einliter-Glasflaschen Benzin „en détail“ verkauft wird. Banken gibt es im Überfluss, das Unternehmertum ist hier ausgeprägt. Im westafrikanischen Vergleich sind die Leute eher gut gebildet. Der einzige afrikanische Literatur-Nobelpreisträger stammt übrigens aus Nigeria: Wole Soyinka. Die Leute sind hier stets auf Trab, umtriebig, temperamentvoller und lauter als anderswo. Es ist keine Seltenheit, dass sich Leute wegen Lappalien, etwa bei Unstimmigkeiten über den Preis für eine Fahrt im Sammeltaxi,  in die Haare geraten und sich lauthals anschreien. „I snap you !“, „ What, you want to snap me ?“, „Yes, I snap you!“. Und so geht es minutenlang weiter. Zum Glück werden sie aber meist nicht handgreiflich und trennen sich sogar mit einem Lächeln. „Sometimes, they go crazy“, heisst es von den Nigerianern. Diebe und Räuber müssen sich hier auf Lynchjustiz einstellen.  Es sind hier vermehrt Menschen mit längerem Haarwuchs zu sehen, insbesondere Frauen tragen hier langes Haar anstelle der kurzgeschorenen Frisur. Die  Abfallbeseitigung scheint zu funktionieren. Erstmals habe ich Hemmungen, meinen Abfall einfach am Strassenrand zu deponieren. Angebote wie Eheberatung und Gewaltprävention zeigen, dass das Land auf einer anderen Stufe ist als die angrenzenden. Und sogar Big Brother hat im Fernsehen Einzug gehalten.

Nun, ich spiele mit dem Gedanken, von Ibadan aus ein Stück mit dem Bus zu fahren, um ohne Umtriebe schnell aus dem  dichtbesiedelten Gebiet rauszukommen. Die Nachbarin von Bimbo, eine Französin, die eine Doktorarbeit über die Filmszene in Nigeria schreibt, nimmt mir dann die Entscheidung ab. Ein bekannter Filmregisseur benötige „Oyibos“, Weisse, als Schauspieler und Statisten für einen historischen Film über die Invasion und Plünderung der Stadt Benin City 1879 durch die Engländer. Transport, Kost und Logis in einem guten Hotel bezahlt. Dazu ein Bündel Geldnoten für fünf Drehtage, für das der Durchschnittsnigerianer wohl sicher zwei bis vier Monate hart schuften muss. Von Ibadan nehme ich also einen Kleinbus nach Benin City. Kurz vor der Abreise steigt ein Priester ein, um eine kurze Predigt zu halten und unserer Reisegesellschaft Gottes Segen zu wünschen und  das „Message & Prayer Bulletin“ zu verteilen. In Anbetracht der schlechten Strassen und der halsbrecherischen Fahrweise ist sein Einsatz durchaus berechtigt. Die Nigerianer sind tief religiös und gläubig. Es gibt zahlreiche Kirchen: die Anglican, die Methodist, die Native Baptist, die Presbyterian, die Reedemed Church.  Jeder gehört irgendeiner Kirche an.

 

Ich bin gespannt auf den Filmdreh. Um die zehn Weisse, zumeist Expats aus Abuja und Lagos, treffen dann tatsächlich ein. Stefan, der Österreicher, Paul aus Litauen und ich kommen wegen unserer Englisch-Akzente für Sprechrollen nicht in Frage. Die Engländer und Kanadier, junge Missionare aus Jos, haben Vorrang. So auch Rob, der Couschsurfer, der auch in Benin City eingetroffen ist. Pflichtbewusst treffen die Weissen früh am Filmset auf. Bis endlich gedreht werden kann, vergehen meist Stunden. Meistens wird erst nach 10 Uhr, wenn die Sonne bereits weit oben steht, gedreht.

Lancelot O. Imasuen ist einer der Begründer der Nollywood-Filmszene. Mittlerweile die drittgrösste Filmindustrie nach Hollywood und Bollywood. Was die Quantität der Filme anbelangt, ist sie sogar die grösste. Über 200 Filme werden pro Monat gedreht, die Qualität ist nicht sehr erhaben. Alle für ein englischsprechendes afrikanisches Publikum bestimmt. Die Stories sind leicht zu überschauen, die Dialoge nicht zu kompliziert. Alles low-budget Filme. Bei diesem historischen Film ist aber etwas mehr Geld vorhanden. Zwei Inder aus der Bollywood-Szene, Dev Agarwal, Kameramann für die teure RED-Kamera und Atirek Kaushal, Soundtechniker, hat Lancelot für die Dreharbeiten einfliegen lassen. Dev meint diplomatisch, dass die Nigerianer Fortschritte machen, während Kaushal kritisiert, dass am Set undiszipliniert vorgegangen werde: kein Briefing, kein Tagesprogramm, keiner weiss, welche Szenen wann gedreht werden. Kostüme und das Team trudeln nach 9 Uhr morgens ein, wenn das beste Licht schon vorbei ist. Man verliert viel Zeit mit dem Begrüssungsritual. Zudem sind alle ständig am „snapen“. „I snap you“, alle möchten mit uns Weissen abfotografiert werden. Um 10 Uhr heisst, man solle sich umziehen, obschon man schlussendlich erst um 15 Uhr drankommt. Während einer Filmszene, als Soldat Stefan verletzt im Busch liegt, schreit die Besitzerin des angrenzenden Maisfeldes, in dem sich das Filmteam breitgemacht hat, drauflos.

Historische Inkongruenzen spielen keine Rolle. Dass wir englische Soldaten in schwarzen Converse-Turnschuhen rumlaufen und „Anarchy“ und „Psychobilly“ Abzeichen am Arm tragen, zird keinen Zuschauer stören. In den Anzügen, Einheitsgrösse, komme ich mir eher wie ein Soldat aus der Slapstick-Komödie „Top Secret“ oder einer Verfilmung eines Cartoons vor. Ich komme gleich bei der ersten Szene als „Flag-Man“ zum Einsatz, später führe ich eine Gruppe afrikanischer Soldaten an, auf dem Kopf Holzkisten transportierend, durch Bananenplantagen und durch einen dichten Wald. Wo wir dann von muskulösen Kriegern hinterhältig überfallen und erwürgt werden. Ich bin gespannt auf das Resultat. Ein anderer historischer Film von Lancelotm Adesuwa, sieht vielversprechend aus.

Ich fahre mit dem Busch-Taxi nach Calabar im Südosten von Nigeria weiter. Abfahrtszeiten gibt es hier in Afrika nicht. Gefahren wird, wenn das Fahrzeug voll ist. Ich staune nicht schlecht, 15 Passagiere mit viel Gepäck haben in dem Kleinbus Platz. Unter den Sitzen stapeln sich Säcke mit Maniok und Zwiebeln, Koffer und Taschen. Das Velo wird ganz einfach hinten an der Heckklappe befestigt. Diesmal fährt ein Priester mit uns mit, nach 5 Minuten hält er uns eine Predigt. Eine ganze Stunde lang. Endlich dann der erste Halt, mein Platz am Fenster ist gut ausgewählt. Schon rennen fliegende Händler vorbei, verkaufen Sachets mit kaltem Wasser, afrikanische Chips (frittierte Koch-Bananen), groundnuts, Soya-Sticks (Brochettes), Melonen und Ananas-Schnitze. Verpflegung muss auf einer Busreise nicht mitgenommen werden, ein paar Naira genügen.

Calabar ist eine Überraschung: die bis anhin sauberste Stadt in ganz Afrika. Gepflegte grüne Rasen, überhaupt kein Abfall auf den Strassen, sehr ordentlich und sauber. Sogar für europäische Verhältnisse vorbildlich. Und das beste Essen in ganz Nigeria soll es hier geben. Rob und Sarah treffen einen Tag später ein. Zusammen besuchen wir die alte gut erhaltene Gouverneurs-Residenz, anschliessend trinken wir ein Bier im Biergarten nebenan. Und die besten Soya-Stände -Fleisch-Brochettes- im ganzen Land soll es hier geben, die lassen wir uns natürlich nicht entgehen. Am Freitag Abend dann begeben wir uns zur Fähre, die nach Kamerun übersetzt. Nigeria war die Reise wert !

Nachtrag: der Nollywood-Film ist mittlerweile auf Youtube zu sehen…

https://youtu.be/oy_ZRLzIOGc?t=42m18s
https://youtu.be/oy_ZRLzIOGc?t=1h21m34s
https://youtu.be/oy_ZRLzIOGc?t=1h33m54s

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