Sahara, Sahel und Senegal

Mittlerweile befinde ich mich im Senegal, wo ich das Gefühl habe, so richtig in Afrika angekommen zu sein, obschon ich ja bereits seit über zweieinhalb Monaten auf afrikanischem Boden rolle. Aber zunächst einmal zurück zur Westsahara.

Nach drei Ruhetagen in dem von Spaniern gegründeten Dakhla, vormals Villa Cisneros genannt, setze ich meine Reise durch die Westsahara, Richtung Süden, fort. Dakhla liegt auf einer Landzunge, ich muss daher 40 Kilometer wieder zurückradeln. Mir ist zwar bewusst, dass ich etwas Gegenwind haben werde, aber dass ich dreieinhalb Stunden für 40 Kilometer brauche, hätte ich nicht gedacht. Und das auf flacher Strecke ! Nachher wird es zwar etwas besser, aber Geschwindigkeiten von 11 bis 15 km/h sind mental nicht gerade erbauend, immerhin sorgen Sand und Wind für ein Dauerpeeling. Und so benötige ich für die 350 Kilometer bis zur Grenze vier Tage.

Ich schlafe bei einer Tankstelle, bei einem „Service de desenseblement“ und sogar bei der Marine Royale. Die kleinen Blockhütten des Militärs, die sich überall entlang der Küste finden, sind alles andere als königlich, sie sehen eher wie erbärmliche Fischerhütten aus. Dafür sind die beiden jungen Rachid und Hassan sehr gastfreundlich. Ich darf neben Ihnen zelten. Beziehungsweise in ihrer selbstkonstruierten, gemütlichen Strandhütte schlafen. Genial ! Den ganzen Tag kämpfe ich schon gegen den Wind, es ist recht heiss, und mir geht die längste Zeit durch den Kopf, dass es an einem solchen Tag sicher entspannendere Freizeit-Aktivitäten gäbe als durch die Westsahara zu radeln. Etwa am Strand liegen, die Kühle des Atlantiks geniessen und Riesenmuscheln sammeln. Das Angebot der zwei jungen Burschen kommt daher wie gerufen. Ohne mit der Wimper zu zucken springe ich rein ins herrlich kühle Nass ! Unterdessen bringt mir Hassan eine Kanne Tee. Ich trockne mich ab, geniesse das süsse Getränk, kühle mein Brausepulver-Getränk in einem Kübel Meerwasser. Die Anstrengung ist vergessen, ich geniesse den einsamen Strand. Das sind die tollen Überraschungen, die man nur auf dem Velo erlebt, denke ich mir. Wir kochen zusammen, verbringen einen lustigen Abend, und um 21 Uhr verziehe ich mich in die Hütte und schlafe bald ein.

Um 1 Uhr nachts klopft es an meiner Hütte. Die beiden Jungs sind auf Patrouille, um die Küste vor illegalen Einwanderern zu kontrollieren. „Ist alles in Ordnung“, rufe ich Ihnen zu. Sie lassen aber nicht locker, ich solle die Türe aufmachen. „Maurizio, nous excusons le dérangement“. Zähneknirschend mache ich auf. In der Dunkelheit, in Uniform und mit Gewehren sehen sie nicht mehr ganz so freundlich aus wie Stunden zuvor. Ich solle die Stirnlampe ausmachen, befehlen sie mir, sie wollen nicht auffallen. „La tente, la tente?“, fragt Rachid ungeduldig. Ich solle es mitnehmen und mit Ihnen zum Strand laufen. „Hey, was soll der Quatsch?“, gebe ich Ihnen zu verstehen. Mir wird etwas bange: wollen die zwei mich jetzt etwa überfallen ? Ich weigere mich und will eine Erklärung. Wegen ihrer mangelhaften Französisch-Kenntnisse brauche ich eine Weile, bis ich ihr Ansinnen durchschaut habe: jetzt seien sie auf Patrouille und nicht mehr als Zivilpersonen unterwegs, sie müssten sich an das Reglement halten. Ich dürfe daher nicht so nahe bei Ihnen schlafen, da es sich um einen militärischen Posten handle. Gleichwohl könne ich in der Strandhütte schlafen, nur müsse ich zunächst das Zelt aufstellen, für den Fall dass Ihr Vorgesetzter vorbeikomme. In diesem Fall müssten wir ihm dann vorgaukeln, dass ich nachts aufgewacht sei und die beiden darum ersucht hätte, in der Strandhütte schlafen zu können, da es draussen – mindestens 20 Grad warm – zu kalt sei. Bravo ! Das hättet ihr mir doch gleich sagen können ! Immerhin haben die beiden keine bösen Absichten und nehmen einzig ihren Job ernst. Um nicht noch einmal gestört zu werden, stelle ich also mein Zelt mitten in der Nacht auf und zügle meine Siebensachen.

Die Ausreise aus Marokko gestaltet sich problemlos. Vier Kilometer Niemandsland liegen zwischen Marokko und Mauretanien. Dem Strassenzustand nach zu urteilen, haben die beiden Staaten kein Wirtschaftsabkommen geschlossen. Eine üble, holprige Sandpiste, die man besser nicht verlässt, denn das Gebiet ist stark vermint. Im Schritttempo kämpfen sich Lastwagen über die miserable Piste mit dem Übernamen „Kandahar“. Ausgebrannte Autos, Wracks, entsorgte Elektronik-Geräte. Allerlei Leute, die auf diesem herren- und staatenlosen Abschnitt krumme Geschäfte drehen und Nummernschilder wechseln.

In Mauretanien fahre ich nach Nouadhibou rein. Die zweitgrösste Stadt Mauretaniens ist ein kleiner Schock. Das Stadtbild wird von Abfallbergen geprägt, in denen Ziegen nach etwas Fressbarem rumstochern. Überall Sand, was nicht weiter verwundert, denn ich bin ja noch in der Sahara. Die ganze Aufmachung der Läden und Geschäfte ist einiges schäbiger als in Marokko. Ein Steinwurf vom Zentrum entfernt fangen bereits die Bidonvilles an.

Mauretanien ist eines der ärmsten Länder der Welt und geniesst, nicht zuletzt wegen Entführungen in entlegenen Gebieten durch die AQM (Al Qaida im Maghreb) und organisierten Banditen, nicht den besten Ruf. In Mauretanien herrscht immer noch eine moderne Form der Sklaverei. Die Bevölkerung ist stark hierarchisch gegliedert: die Elite wird durch die weissen Mauren, den Bidhan gebildet, während die dunkelhäutigen Haratin oftmals Sklaven als Vorfahren haben. Man bekommt das im Land zu spüren, die Leute sind zurückhaltender als in Marokko.

Von Nouadhibou aus fährt der berüchtigte Eisenerzzug ins Landesinnere nach Zouérat. Er ist mit rund zwei Kilometern, 200 Waggons und bis zu vier Lokomotiven einer der längsten und schwersten Züge der Welt. Der Sahara-Sand ist dabei das grösste Hindernis. Entsandungstrupps sind alle Hundert Kilometer stationiert. Der Verschleiss von Geleisen und der Züge ist sechsmal grösser als unter normalen Umständen. Eine Fahrt auf diesem Zug – gratis in einem der Eisenerzzwaggons – muss ein einmaliges und anstrengendes Erlebnis sein und schüttelt alle Knochen richtig durch. Ich verzichte auf die Rüttelparty und fahre zur Hauptstadt weiter.

Auf der Strecke Nouadhibou – Nouakschott passiert man alle 50 bis 80 Kilometer einen Checkpoint der Gendarmerie Nationale. Ich händige jeweils die „fiche de renseignements“ mit meinen persönlichen Daten aus. Die Bevölkerung ist alarmiert und informiert umgehend die Gendarmerie über die Anwesenheit unbekannter Personen, einschliesslich Velofahrern. Beeindruckend. „Bei Kilometer 42 hast Du Tee getrunken, nicht wahr? An der Tankstelle bei Kilometer 67 hast Du eine Cola gekauft ?“ Solche Bemerkungen der Gendarmes sind nichts Aussergewöhnliches. Auch tagsüber sind mobile Einheiten auf Patrouille. Oft halten sie an und erkundigen sich nach meinem Wohlbefinden. Sicherheitshalber zelte ich jeweils bei den Postes de Gendarmerie. Eine andere Wahl habe ich eh nicht, da sie mich am späten Nachmittag bzw. abends nicht mehr weiterfahren lassen.

Die Hauptstadt Nouakchott ist der Inbegriff einer unkontrolliert wachsenden Stadt mit mangelhafter Infrastruktur. 1959 ist die Stadt im Zuge der Unabhängigkeit hastig für 30‘000 Einwohner geplant worden. Heute wohnen bzw. hausen hier mehr als eine Million Menschen, darunter sehr viele landflüchtige Nomaden.

Immerhin gibt es hier eine tolle Herberge, in der man auf viele andere „Overlander“ trifft. So auch auf die zwei Italiener Fabrizio und Paolo, Cousins aus den Abruzzen, ebenfalls mit dem Rad unterwegs. Es sind die ersten „richtigen“ italienischen Tourenfahrer, die ich in den letzten Jahren angetroffen habe. Und auch die ersten mir bekannten Tourenfahrer, die täglich mindestens eine Packung Zigaretten qualmen. Aber auch der Dokumentarfilmer Tommaso Cotronei, der eine Reportage über den Eisenerzzug drehen wird und Ivo, ein anderer 55-jähriger Italiener, haben sich in der Auberge Menata eingefunden. Eine richtige italian connection. Und da Tommaso ein fettes Stück Parmesan mitgenommen hat, nutzen wir die Gelegenheit und kochen feine Pasta.

Nouakchott scheint, obschon nicht sonderlich attraktiv, meine Stadt zu sein: überall sind Mauris zu sehen: Mauritel, Mauriart, Mauritrac, Maurigraph, Maurilab, Mauripressing, Mauricenter. Unglaublich, in welchem Zustand gewisse klapprige und völlig verrostete Autos, die jeden Moment auseinanderfallen zu drohen, hier noch ihren Dienst verrichten. Sehenswert in Nouakchott ist immerhin der Port de Pêche, ein Strandhafen, in dem auf einer Länge von über einen Kilometer die farbigen Fischerboote, die Pirogen, aneinandergereiht werden und nachmittags vom Fischfang zurückkehren. Über Rollen werden die Boote von Hand an Land gezogen. Der Fischfang wird auf Eselskarren verladen und zur Verkaufshalle gebracht. Dieser soll, zumindest für die Einheimischen, in den letzten Jahren zurückgegangen sein. Mauretanien hat vor Jahren der EU ein unbeschränktes Fischfangrecht eingeräumt – für jährlich rund 62 Millionen Euro. Der Fischfang bildet heute die wichtigste Einnahmequelle von Mauretanien.

Von Nouackchott fahren Fabrizio, Paolo und ich zusammen los. Von der Sahara geht es fliessend in die Landschaft der Dornsavanne des Sahel über. Wir übernachten im berüchtigten Grenzort Rosso.“ Ein Ameisenhaufen, aber von denen die stechen“, laut einem professionellen französischen Autoschieber. Wir fahren danach einem Damm entlang bis nach Diama. Eine tolle Etappe, entlang des Senegalflusses und von Sumpfgebieten, eine Brutstätte für viele Zugvögel. Wir befinden uns im Nationalpark Diawling. Und kurz vor der Grenze zu Senegal werden wir zur Kasse gebeten, da wir schliesslich durch den Park gefahren sind. Wenige Minuten vorher weiss ich das noch nicht, als ich für ein Landschaftsfoto anhalte. Ein Toyota Pick-Up hält brüsk vor mir an, ein Gendarm springt raus und ruft mir laut und aggressiv zu, was mir denn einfalle. Es sei strengstens verboten hier zu fotografieren. Er müsse die Kamera beschlagnahmen, ich müsse mitkommen auf das Kommissariat und das käme mir teuer zu stehen. Openair-Theater ohne Zuschauer bzw. Zeugen. Ich brauche einige Momente, bis ich realisiere, dass er seine Rolle gut spielt und muss mir schon fast das Lachen verkneifen. „50 Euro“ wolle er, dann könne ich gehen. Ich bleibe ruhig, entschuldige mich höflich für meinen Faux-pas, meine nur, dass ich weit und breit kein Gebäude, schon gar kein militärisches sehe, das Fotografierverbot daher alles andere als offensichtlich sei, wir schliesslich in einem Nationalpark seien, wo rudelweise Warzenschweine über den Weg laufen und viele Vögel beobachtet werden können. Mindestens drei Mal sei mir ein Rudel Warzenschweine über den Weg gelaufen. Und erst recht die Flamingos. Ob er auch welche gesehen habe, das seien ganz tolle Tiere. Und übrigens habe ich den ganzen Tag kein einziges Schild mit Fotografierverbot gesehen. Kurz: ich labere ihn voll. „30 Euro und ich könne gehen“. Nein, ich offeriere ihm eine halbe Packung Biskuits und bleibe standhaft, bis er von seinem Einschüchterungsversuch loslässt und davonfährt. Schade um den guten Ruf der zahlreichen Gendarmes, die sich stets um meine Sicherheit gekümmert haben.

Senegal ist dann eine angenehme Abwechslung: die Leute sind sehr freundlich und höflich. Die Dörfer sind gepflegter. Der Abfall wird nicht mehr neben den Häusern sondern auf der gegenüberliegenden Strassenseite entsorgt. Wir bleiben einige Tage in St. Louis, dem “Venedig Afrikas”. Genau genommen unweit der Hydrobase, wo in den 30-Jahren die Aéropostale Halt machte. St. Louis ist 1658 von den Franzosen gegründet worden und steht heute unter UNESCO-Schutz. Ich verbringe zwei Tage mit den Brüdern Daouda und Mukhtar, die dem Verein „Espoir des enfants de la rue de St. Louis“ vorstehen. Sie kümmern sich um bettelnde Strassenkinder, um die „talibés“, die hier in städtischen Gebieten sehr häufig zu sehen sind. Die talibés laufen in zerrissenen, dreckigen Kleidern, barfuss, mit Betteleimern umher. Sie sind Opfer einer alten senegalesischen Tradition: jede Familie hat einen Sohn einem „Marabout“, einem Koranlehrer anzuvertrauen, der die Verantwortung übernimmt und ihn den Koran beibringt. Der Marabout hat das Recht, die Kinder für sich arbeiten zu lassen und sie auf die Strasse zum Betteln zu schicken. Bringen sie den geforderten Betrag nicht „heim“, werden sie häufig misshandelt. Heutzutage werden Kinder ganz einfach zum Marabout geschickt, weil die Eltern sie nicht mehr ernähren können. Der Marabout muss sich aber um derart viele Kinder kümmern, dass eine Fürsorge schlicht nicht mehr möglich ist. Der Staat stellt immerhin Häuser, Daara, zur Verfügung.

Daouda und Mukhtar versuchen, erste Hilfe zu leisten, Wunden zu versorgen, die Kinder zu unterrichten und ihnen soweit möglich, Essen und Kleider zu beschaffen. Sie beherbergen auch Ausländer, die während Tagen oder Wochen in den verschiedenen Häuser der Marabouts helfen. Freiwillige Helfer sind bei Ihnen stets willkommen.

Weihnachten verbringen wir einige Kilometer weiter südlich, im Nationalpark Langue de Barbarie. Hier befindet sich ein Campement, die Zebra-Bar. Ein beschaulicher, ruhiger Ort inmitten von Palmen und Akazien, von einem Schweizer Paar vor 15 Jahren gegründet. Man trifft hier auf andere ganz normale Leute, wie etwa die pensionierten Ron und Linda aus England, die mit ihrem Morris Minor, Jahrgang 1953, nach Südafrika unterwegs sind.

Oder Chris und Sue, ebenfalls Engländer, und gleichfalls auf dem Weg nach Südafrika. Sie haben ihren Heissluftballon mitgenommen und fliegen diesen in jedem Land, das sie bereisen. Mit oder ohne behördliche Bewilligung. Entweder landen sie auf den Boden oder im Gefängnis. Beides haben sie schon zur Genüge erlebt.

Silvester werde ich in Dakar verbringen. Bei einem sehr gastfreundlichen Auslandschweizer, Sacha, der ebenfalls viele Velotouren unternommen hat und hier in einer Kunstgalerie arbeitet.

An dieser Stelle sei noch erwähnt, dass aufgrund der Sicherheitslage in Mali – es gab unweit des Pays du Dogon Entführungen Ende November – Helvetas und ich beschlossen haben, den Projektbesuch und die Spenden auf Benin zu verlegen. Ich hoffe, dass dies im Sinne der zahlreichen Spenderinnen und Spender ist, die jedenfalls noch persönlich von Helvetas kontaktiert werden. Ich hoffe auf Euer Verständnis. So, und spätestens jetzt ist Zeit, den Champagner kühlzustellen, um auf ein zufriedenes und erfülltes Jahr 2012 anstossen zu können. Bis bald, Maurizio.

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