Ein (be)sinnliches Erlebnis

Stephane und ich machen uns auf den Weg nach Indien. Letztmals waren wir vor genau drei Monaten auf dem Aksai Chin Hochplateau zusammen unterwegs. Das blaue Tor mitten in der dichtbesiedelten Ortschaft zeigt uns an, dass wir indisches Hoheitsgebiet betreten. Zollbehoerden sind keine auszumachen. Erst nach 100 Metern finden wir eingepfercht zwischen Kraemerladen die Immigrationsbehoerden. Nachdem wir den ueblichen Fackel ausgefuellt haben, sind wir offiziell in Indien, im Bundesstaat Uttar Pradesh, sechs Mal so gross wie die Schweiz. In UP, wie der Bundesstaat in Indien genannt wird, leben 166 Millionen Menschen, so viel wie in Frankreich, Italien und Spanien zusammen !

PLEASE HORN

Es stellt sich bald heraus: Velofahren in Indien ist spannender als jedes Videogame ! Man ist stets bedacht, von den Tata-Lastwagen nicht in den Graben gedraengt zu werden. Es wird nicht situativ gehupt, sondern praeventiv. Busse und Trucks druecken durchgehend auf die Hupe, wenn sie eine Ortschaft durchfahren. Diese verdammten Hupen sind ohrenbetauebend und gehen uns schon sehr bald auf die Nerven. Der Laermteppich in Staedten ist nicht auszuhalten. Man weicht Velofahrern, Rikshas, Autorikshas, Bussen, Autos und den heiligen Kuehen aus, die sich alle gleichzeitig bemerkbar machen wollen, obschon der Vekehr oft stillsteht.

Die Fahrraeder der Marken Herkules, Hero, Atlas und Avon sind nicht zu unterscheiden: Einheitsgroesse, schwarz, ein Gang. Gemaechlich schlendern die vielen Velofahrer mit 15 Kilometer pro Stunde ihres Weges. Das Spiel wiederholt sich einige Male: ein Inder will es uns zeigen, ueberholt uns und versucht, uns abzuhaengen. Wir nutzen moeglichst lange den Windschatten aus, bis der Inder irgendwann voellig ausser Atem in eine Nebenstrasse abzweigt. Ansonsten eignen sich schwerbeladene Traktoren gut als Schrittmacher.

Bis nach Delhi wird die Strasse topfeben sein. Rohrzuckerplantagen zieren die eintoenige Landschaft. Am Morgen herrscht oft eine neblige Stimmung. Dies vermag die Augenfaelligkeit der Ueberbevoelkerung und der ausgedehnten Armut nicht zu verschleiern. Die wuchernden Slumsiedlungen, oft zwischen Bahngeleise und Strasse gelegen, spotten jeder Beschreibung. Wer mit dem Fahrrad unterwegs ist, rennt nicht von Flughafen zu Bahnhof zu Hotel zu Sehenswuerdigkeit und bekommt so die Facetten des taeglichen Lebens hautnah zu spueren. Abfallberge liegen ueberall herum, in denen Kinder und Frauen zusammen mit Kuehen, ausgemagerten Strassenkoetern und Schweinen nach etwas Ess- oder irgendwie Brauchbarem herumstochern. Kanaele und Fluesse sind pechschwarz gefaerbt. Die Luft ist dreckig. Meine Nase sieht abends wie nach einem Chienbaese aus ! Schon bald plagt mich ein hartnaeckiger Reizhusten, verursacht durch den Staub.

Bei jedem Halt werden Stephane und ich von lethargischen Schaulustigen umzingelt. Sehr wenige laecheln oder sprechen uns an. Obschon Indien waehrend rund 200 Jahren eine indische Kolonie war und Englisch nebst Hindi Amtssprache ist, beherrschen auf dem Lande nur sehr wenige Englisch. Wuerden wir die Inder nicht anlaecheln oder uns zu einem Spaesschen hinreissen lassen, verkaeme die Anglotzerei zu einer fuer uns peinlichen Angelegenheit. Wenn dann einer endlich den Mund auftut, ist oft nur ein undeutliches Lallen zu vernehmen. Umso deutlicher zeichnet sich dafuer eine rotbraune Masse in den Mundwinkeln ab: das Paan.

In Indien wie in ganz Suedchina und Suedostasien ist das Kauen der Betelnuss auesserst beliebt. Die zerhackten Nuesse werden mit Gewuerze, oft auch Tabak, in ein Blatt eingerollt und tel quel im Mund zerkaut. Der ueberschuessige Speichel wird am Boden und an Hauswaenden gespuckt. In engen Gassen sind die Waende bis zur Kniehoehe dunkelrot gefaerbt. Leider hilft das Paan nicht gegen Muecken. Mancherorts sind sie eine richtige Plage. Gegen diese laestigen Viecher scheint kein Kraut gewachsen zu sein, keine Radlerhose scheint dick genug zu sein. Ich kann nur hoffen, dass sich keine Anopheles-Muecke unter den Plagegeistern befindet.

Einladungen sind eher selten. Umso erfreuter sind wir, als uns ein junger Inder zu sich nach Hause einlaedt und uns sein Anwesen zeigt, in dem vier Generationen unter einem Dach leben. Ein anderes Mal laedt uns ein muslimischer Baba, der vor einer in Bau befindlichen Moschee Wache haelt, zu einem Tee ein. Um den Schrein eines Maertyrers faellt eine Frau in Ekstase. Ihre Schreie lassen uns aufzucken. Die boesen Geister sollen vertrieben werden. Der Maertyrer soll im Dezember 1992 getoetet worden sein. Wir schliessen daraus, dass dies anlaesslich der von Hindu-Extremisten erstuermten und zerstoerten Babri-Moschee aus dem Jahre 1528 geschehen ist.

Der Ganges: Rein, aber alles andere als sauber

Wir kommen in der heiligsten Stadt des Hinduismus an, Varanasi, besser bekannt unter dem Namen Benares. Seit ueber 2’500 Jahren pilgern Glaeubige zu den kilometerlangen Stufen am heiligen Fluss Ganges, der am Berg Kailash, dem Sitz des Gottes Shiva; entspringt. Waehrend sich die Hinduisten durch eine rituelle Waschung im Fluss eine Reinwaschung vor Suenden erhoffen, soll ein Sterben und Verbrennen am Fluss vor einer Wiedergeburt schuetzen. Wer von Europa direkt nach Varanasi fliegt, unterliegt einem regelrechten Kulturschock.

An zwei Kremationsstaetten werden ununterbrochen Leichen verbrennt, der beissende Rauch brennt in den Augen. Ab und zu schwimmen Leichenteile herum. Hunderte Meter lange Leinen, an denen die im Ganga mit starker Lauge weichgeklopften Kleider und Laken der Waeschereien getrocknet werden. Bueffelherden suchen Abkuehlung im Nass, waehrend die Aermsten der Armen den heiligen Tieren nachlaufen, um den Mist mit blossen Haenden zu sammeln und ihn zum Trocknen fladenartig an Waende zu klatschen. Die getrockneten Fladen dienen als Brennmaterial. Riesige Kanaele leiten die Abwaesser unbehandelt in den Fluss. Die bestehenden Klaeranlagen sind voellig unzureichend und wegen der andauernden Stromunterbrechungen ohnehin nicht funktionsfaehig. Die Werte der Sauberkeitsparameter liegen um das Hunderttausend- bis Millionenfache ueber den Grenzwerten. Ein Tropfen Gangeswasser ist eine Generalattacke auf den menschlichen Koerper!

Weniger die Tatsache, dass sich die Inder in dem voellig verdreckten Fluss baden, ist abstossend, sondern die Unsitte, dass die Notdurft in aller Oeffentlichkeit entlang des ganzen Ufers verrichtet wird. Ein beissender Gestank von Exkrementen und Kuhmist liegt ueber den Ghats und vielen Teilen der Stadt. Wie laesst sich das bloss in den heissen Sommermonaten aushalten ?

In Benares verabschiede ich mich endgueltig von Stephane. Meine Reise geht bald zu Ende. In der potthaesslichen Industriestadt Kanpur komme ich erst nach Einbruch der Dunkelheit an. Die Tage sind zu dieser Jahreszeit zu kurz, um ohne Hast 120 Kilometer am Tag fahren zu koennen. Die ersten vier Hotels sind – wer haette das in dieser Stadt gedacht – bereits voll. Ich werde langsam ungeduldig und ausfaellig. Ich lasse mir diese Luege nicht weiter gefallen und fange an, die Hotelbesitzer anzuschreien. Nur weil sie nicht im Besitz des bloeden Formulars fuer auslaendische Touristen sind, wollen sie mich nicht uebernachten lassen. Es bleibt mir nichts anderes uebrig, als im teuren “Mayfair Hotel” zu uebernachten.

Ein spaetes Weihnachtsfest

In Manpuri scheinen die Hotelbesitzer geschaeftstuechtiger zu sein. Das Zimmer ist dafuer ein Rattenloch und gleich neben dem Stromgenerator. Ich nehme die Einladung des Inders an, der mich waehrend den letzten 20 Kilometern begleitet hat. Die vierkopfige Familie bewohnt ein kahles Betonzimmer, 4 mal 6 Meter gross. Der ganze Hausrat hat in zwei Bananenschachteln Platz. Eine Gluehlampe und ein kleiner Gluehofen sind die einzigen technischen Geraete. Zeitungspapier dient als Dekoration. Sie leben auesserst armselig und doch sind sie noch besser dran als die vielen Slumbewohner. Waehrend die Ehefrau “vegetables” kocht, kaufe ich 10 Samosas, Suessigkeiten, 2 Kg Aepfel, Rueben und Weissbrot ein. “My children very happy” strahlt Bigeldurbi ueber das ganze Gesicht, der zu meinem Erstaunen der hoechsten Priesterkaste angehoert. Ein richtiges Weihnachtsfest hat er seiner Familie beschert ! “My wife request you rest one day”, heisst es am naechsten Morgen. Diese Freundlichkeit kann ich gut verstehen, ich will aber an diesem Silvester noch Agra erreichen. Er versteht, “time costly”. “One piece foto sun?” kommentiert er die aufgehende Sonne. Ich gebe ihm 150 Rupees zum Abschied.

Abends erreiche ich endlich Agra. Meine Blutgruppe lechzt nach rotem Fleisch. Die auferzwungene vegetarische Curry-Masala-Diaet der letzten Wochen ist eintoenig. Im Pizzahut, das von der upper middle class frequentiert wird, werde ich fuendig und bestelle mir eine Lammfleisch-Koefte Pizza. Die neureichen Inder, allen voran das weibliche Geschlecht, haben einen deutlichen Hang zur Fettleibigkeit. Wellness und Fitness sind hier noch Fremdbegriffe.

Eine weitere Unsitte in Indien ist, von auslaendischen Touristen unverschaemt hohe Eintrittpreise abzuknoepfen, angeblich fuer die Restaurierung der Monumente. Wuerde Indien lieber weniger Geld fuer den Bau von Atombombomben ausgeben ! Der Anblick des Taj Mahal in Agra entschaedigt dann allerdings fuer diese Unpaesslichkeiten. In Delhi ist dann meine lange Veloreise zu Ende. Wie unglaublich schnell sind 333 Tage verflogen !

Bildergalerien

(Alle digitalen Bilder sind mit der Handykamera aufgenommmen worden)

Schweiz-Tuerkei

Iran-Zentralasien

Tibet-Indien

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert