Ausgetraeumt ?

Es ist geschehen, was nicht passieren darf. Eine Horrorvision: mein Velo ist gestohlen worden ! Als ich am Sonntag vor einer Woche in einem Internet-Cafe in Samarkand sitze, ist mein Velo kurzerhand samt Schloss davongetragen worden. Als ich das Lokal verlasse und mein Fahrrad nirgends mehr sehe, stockt mir der Atem. Das darf nicht sein! Meine Reise so abrupt zu Ende? Ich schreie den Besitzer des Cafes an: “Where is my bicycle?” Der grinst nur bloede, laesst seine Goldzaehne glitzern und meint, ich haette doch das Velo lieber ins Lokal reingenommen, ich sei doch selber schuld. Die Polizei will er nicht benachrichtigen. Daraufhin renne ich zum Hotel zurueck und zusammen mit dem herzensguten Mr. Bahodir des Bred und Breakfast, wo ich lebe, gehen wir zur Polizei. Bis zum Vormittag wird am Tatort fotografiert, einvernommen und protokolliert, als sei ein Kapitalverbrechen passiert. Kurz vor vier Uhr duerfen Mr. Bahodir und ich dann uebermuedet endlich zurueck ins Hotel.

Am naechsten Morgen werde ich zur Polizeistation gefahren. Etwa 60 Polizisten und Helfer haben sich hier eingefunden und werden instruiert, um nach meinem Velo zu fahnden. Ich bin beeindruckt und beruehrt. Dennoch glaube ich nicht, dass mein Velo gefunden wird. Das wird fuer die naechsten Wochen und Monate irgendwo eingelagert, male ich mir aus.

Meine Reise beenden will ich wegen des Diebstahls auf keinen Fall. Mein Usbekistan Visum wird in wenigen Tagen ablaufen und ich kann nicht warten, bis mein Velo gefunden wird. Ein Ersatz muss her, koste es was wolle. Mein anderes Tourenbike express nachschicken zu lassen, kommt mir dann allerdings zu teuer zu stehen. Riesenglueck im Unglueck: Mr. Bahodir besitzt ein altes Mountain Bike, das er von einem franzoesischen Tourenfahrer praktisch geschenkt erhalten hat und das er mir spontan weiterverschenkt. Es sieht nicht schlecht aus und ich koennte mit diesem die Reise wagen. Per SMS teile ich meinem Bruder Pietro mit, welche Teile ich dringend benoetige, um das Rad tourentauglich aufzuruesten. Mein Plan ist, mit dem Bus nach Dushanbe (Tadjikistan) zu fahren, um dort das Paket in Empfang zu nehmen und dann meine Reise mit dem Rad fortzusetzen. Mental stelle ich mich bereits auf das “neue” Giant Bike ein.

Am Tag nach dem Diebstahl kommen der fallfuehrende Untersuchungsbeamte und acht weitere Polizisten vorbei. Sie haben von meinem Ersatz Wind bekommen und wollen den Fall nun kurzerhand abschliessen, andernfalls ich noch drei Wochen in Usbekistan bleiben muesse. Offenbar ist es ihnen nicht recht, ihrem Vorgesetzten eingestehen zu muessen, dass vor dem Hauptplatz ein Tourist beklaut worden ist. Eine neue Version der Sachlage haben sie bereits zusammengeschustert: ich war im Internet-Cafe, als ich rauskam, meinte ich, mein Velo sei gestohlen worden, ich habe die Polizei informiert und erst am naechsten Tag merkte ich, dass ja mein Velo im Hotel war und ich am Vorabend ohne Velo unterwegs war. Glaubwuerdig, nicht ?

Nun wird diese Geschichte stundenlang protokolliert, das neue MTB und der Hof des Hotels ausfuerlich beschrieben und fotografiert. Schliesslich muss ich in eine Videokamera grinsen und in etwa folgendes Statement zum Besten geben: ‘Hi, I am Maurizio, I found my bike. Yesterday as I left the Internet-Cafe I thought that my bike was stolen. That was the reason why I called the police. But I forgot that I went out without bike and that I had it in the hotel. It was my mistake and I am very sorry.” Genausogut haette ich auch sagen koennen, dass ich vorher Gras geraucht hatte und ich ein voelliger Idiot bin. Als wir fertig bin, darf ich das alte Protokoll zerreissen und verbrennen. Irgendwann kommt dann ein Vorgesetzter und wir alle binden ihm einen Baeren auf. Die Situation ist komisch und ich kann mir das Lachen kaum verkneifen. Mr. Bahodir meint, dass die neun Polizisten Besseres zu tun gehabt haetten, als nur “talk, talk, talk”. Es sei gut gewesen, gute Miene zum boesen Spiel zu machen.

Als ich tags darauf daran bin, das alte MTB auf Vordermann zu bringen, kommt ein Juristenpaar aus London, das am Vorabend im Hotel eingetroffen ist, vorbei. Sie haetten vor dem Registan-Platz einen etwa zehnjaehrigen Jungen auf einem Tourenbike fahren gesehen. Der Lenker und der Lowrider (vorderer Gepaecktraeger) seien Ihnen aufgefallen. Sie haetten sich gedacht, dass muesse mein Fahrrad sein, und haben den Jungen gestellt. Ob das wirklich mein Fahrrad sei? Lange bringe ich kein Wort heraus. Ich umarme Sam und Francesca, meine Helden ! Sie haben mein Fahhrrad wiedergefunden ! Der Dieb muss kalte Fuesse erhalten haben und sich des Fahrrades entledigt haben. Der Bub auf dem Velo hat wohl kaum das Velo gestohlen. Abends spendiere ich Vodka, Bier und Suessigkeiten. Nach der emotionalen Achterbahn kann ich das gut gebrauchen !

Mittlerweile hat nun der Untersuchungsbeamte mitbekommen, dass mein Fahrrad aufgetaucht ist. Dumm fuer ihn, dass nicht einer der zahlreichen Polizisten vor dem Registan-Platz den Jungen angehalten hat und er sich den Finderlohn von 300 Dollar ans Bein streichen kann. Er telefoniert mir ins Hotel: “Mr. Maurizio, we have to do the protokoll and the film again, with your real bike!” Zum Glueck kommt er nicht wie versprochen am naechsten Tag vorbei. Ich packe meine Siebensachen und verlasse Samarkand. Meine Vorfreude auf die bevorstehenden Berge im Pamir-Gebirge ist umso groesser.

Danksagung

Meine Lehren habe ich aus diesem Vorfall gezogen. Als ich diese Zeilen in einem Internet-Cafe in Dushanbe schreibe, steht das Velo meiner italienischer Gastgeber, Angestellte einer NGO, neben mir. Insbesondere meinem Bruder Pietro, aber auch meiner Schwester Lola und meiner Freundin Ruth, die zwei Tage lang fuer mich herumgerannt sind, winde ich an dieser Stelle einen Riesenkranz. Zum Glueck konnten wir das Paket nach Dushanbe noch stoppen und das Material beim Veloplus ganz unbuerokratisch umtauschen. Und natuerlich verbeuge ich mich nochmals vor Sam und Francesca fuer ihre Geistesgegenwart und ihre Entschlossenheit. Thanks Sam and Francesca, you are my heroes !

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