Frühlingshaftes Westanatolien

Die Fahrt raus aus der Megalopolis Istanbul ist wegen des unglaublichen Verkehrs sehr anstrengend. Den Bosporus überquere ich mit einer Faehre und versuche schon gar nicht, über die neue Autobahnbrücke den Kontinent zu wechseln. Nach 50 Kilometern herrscht immer noch reger Verkehr. In Gebze nehme ich daher nochmals eine Faehre über das Marmara-Meer, fahre noch ein kurzes Stück der Küste entlang und nehme gleich eine erste Anhoehe in Angriff. Diese ist derart steil, dass ich nicht umhin komme, das Velo teilweise zu schieben. Saftig grüne Wiesen mit Obstbaeumen wechseln sich mit dichten Laubwaeldern ab. In dieser Hügellandschaft waehnt man sich bald im Jura, bald in den Pyrenaeen. Die Baeume stehen in voller Bluete und die Pollen fliegen mir um die Nase. ‘Wie schrecklich’, werden sich heuschnupfengeplagte Leute wie ich denken ! Nach einer nicht enden wollenden Niesattacke muss ich zur Chemiekeule greifen, wonach es mir bald etwas besser geht. An einem kuehlen Bach finde ich ein einladendes Plaetzchen, um mein Zelt aufzustellen. Eine heftige Sturmboe reisst dem Zelt drei Heringe aus dem Boden und schleudert sie in das Bachbett nebenan. Mit grossen Steinen beschwere ich die Heringe zusaetzlich.


Ich muss erst am 19. April wieder in Ankara sein, um hoffentlich am darauffolgenden Tag mein Turkmenistan-Visum abzuholen. Ich habe es daher nicht eilig, schaue weniger auf den Kilometerzaehler, lasse die Begegnungen auf mich zukommen und geniesse die warme Fruehlingssonne. In der kleinen Ortschaft Kizderbent, kaum 90 Kilometer von Istanbul entfernt, fahre ich an einer Teppichweberei vorbei. Ich halte natuerlich an, um den flinken Haenden der zahlreichen Damen bei der Arbeit zuzusehen. Beim Anblick eines Tourenfahrers in kurzen Veloshorts sind diese aus dem Haeuschen und rasch aus der Arbeitsstube. Die Chefin ruft sie vergebens zur Vernunft auf. Ich und mein Stahlross werden umzingelt und begutachtet. Die Vorlauteste wagt sich sogar auf mein Velo. ‘Berlusconi Kizderbent’, sprich der Bürgermeister, kommt vorbei und laesst sich ebenfalls von mir ablichten. Hundert Meter weiter werde ich zum Tee eingeladen.


Bei sonnigem Wetter fuehrt meine Fahrt weiter zum Iznik Goelü (See), der von endlosen Olivenhainen umsauent ist. In Iznik quartiere ich mich bei der Pension Kaynarca des leich exzentrischen aber sehr freundlichen Ali Bulmus ein. Eine solche Pension wünscht man sich in jeder Ortschaft: zentral, guenstig, sauber, Küche zur freien Benützung, Terrasse mit herrlicher Aussicht und Internet-Cafe nebenan. Ali lichtet alle seine Gaeste ab und auf seiner Webseite solltet Ihr mich daher finden. Nach Inegoel gilt es eine Steigung von rund 800 Hoehenmetern zu bezwingen. Die Strasse schlaengelt sich durch einen wunderschoenen Laubwald. Und wieder entdecke ich eine Schildkroete, die ich in aller Ruhe fotografieren kann.

Auf der Passhoehe in Nazifpasa schiesse ich zunaechst ein ‘Gipfel’-Bild. Kurz darauf naehert sich Salih Aksehir und stellt sich als Imam der 30-Familien-Gemeinde vor. Er hat eine Freude an den wenigen Touristen, die sich in diese Gegend verirren: ‘No Antalya-Tourist, Kültür-Tourist’. Andere Tourenfahrer aus Frankreich und Belgien seien ebenfalls hier durchgefahren. Ich frage ihn, ob ich die Moschee sehen koenne. Er willigt sofort ein und in Begleitung einer Kinderschar zeigt er mir die Moschee, setzt den Imam-Hut auf, singt mir ein paar Verse aus dem Koran vor, erklaert mir die Wappen mit den arabischen Insignien und schenkt mir sichtlich gerührt zum Abschied eine Tesbiah, einen Rosenkranz. In der waldreichen Landschaft, die mich stark an das Baselbieter Jura erinnert, macht das Zelten Spass.

In der modernen Stadt Eskisehir goenne ich mir nach drei Tagen im Zelt ein Hotelzimmer. In einem Hamam lasse ich mich gruendlich schrubben und einseifen. Als ich Eskisehir verlasse, faellt mir ein aelterer, armseliger Herr auf, der am Strassenrand den Abfall durchstoebert und Saecke damit fuellt. Es nimmt mich wunder, was er tut. Der braungebrannte und untersetzte Mann klaert mich auf: Aluminiumdosen sammle er fuer die ‘fabrika’. Für ein Kilogramm erhalte er eine türkische Lira (umgerechnet rund einen Franken). Pro Tag schaffe er fünf Kilogramm. Für ein Kilogramm muesse er 150 Dosen sammeln. Er zuckt mit der Schulter und sagt ‘Türkyie’, als wolle er mir zu verstehen geben, dass dies auch ein Teil der Türkei sei. Noch lange richte ich den Blick auf den Strassengraben, zaehle die Aludosen und rechne aus, wieviel der arme Mann dafuer erhaelt.

Die Landschaft wird flach, eintoenig und baumlos. Dementsprechend schwieriger gestaltet sich die Suche nach einem sichtgeschützten Zeltplatz. Der Brunnen des 70-jaehrigen Hassan kurz vor Kaymaz kommt da gerade richtig. Inmitten eines Kiefernhaines hat er eine richtige Oase fuer Durchreisende eingerichtet: WC, Esstisch, Liege- und Gebetsmatten. Alles liebevoll dekoriert. Spruchbaender und tuerkische Flaggen. Nach einer Runde auf dem vom Esel gezogenen Karren kann ich mein Zelt aufstellen. Am naechsten Tag komme ich nicht viel weiter. Ich will in Kaymaz meine Vorraete auffuellen und lande beim pittoresken Pazar. Hier kann ich endlich ein paar Schwarzweiss-Filme belichten. Im Unterschied zu den Herren, die sich gerne fotografieren lassen, muss ich bei den Frauen, die alle weisse Kopftuecher tragen, etwas vorsichtiger sein.

Wenige Kilometer spaeter mache ich einen Abstecher zu einer Felsformation, die mir bereits am Vorabend von weitem aufgefallen ist. Wieder einmal sichte ich – diesmal inmitten der Geroellhalde – eine Schildkroete. In Karakaya, der Ortschaft nebenan, werde ich von einem Auto angehalten. Ercan und sein Vater laden mich zu sich nach Hause zum Tee ein. Zum Abschied werde ich mit feinem Fladenbrot, hausgemachtem, frischem Schafskaese, Tomaten und Gurken beschenkt ! Meine Packtaschen sind prall gefuellt. Um drei Uhr, gerade mal 15 Tageskilometer in den Beinen, verlasse ich die Familie von Ercan. Dank Rueckenwind und flacher Topographie schaffe ich es bis zum Abend noch auf 75 Kilometer.

Am naechsten Tag laeufts nicht durchwegs rund: zunaechst haelt mich ein Plattfuss auf. Weiter nicht schlimm. Als ich den Platten repariert, alles eingepackt und mir die Haende gewaschen habe, bemerke ich am Vorderrad ebenfalls einen Platten. Was fuer ein Pech ! Mein Zeitplan geraet ins Wanken und ich treffe in Ankara erst um 21 Uhr ein. Am naechsten Tag, dem 20. April, kann ich endlich mein Visum bei der turkmenischen Botschaft in Empfang nehmen. Die Einladung des turkmenischen Aussenministeriums liegt vor. Nicht so das Paecklein mit Ersatzteilen, das mir Lola vor einigen Wochen an die Adresse von Turan geschickt hat. Im Hinblick darauf, dass Ruth am 23. April in Kayseri einfliegen wird, mache ich mich gleich wieder auf den Weg. Zunaechst muessen aber Seda und ich den kleinen Deniz Bora beruhigen: er will, dass mein Velo auf dem Balkon bleibt und faengt an zu heulen, als ich gehen will.

Ich fahre dem Tuz Goelü (Salzsee) entlang und lasse es mir nicht nehmen, auf der Salzkruste herumzulaufen. Die Strasse ist relativ stark befahren: sie fuehrt nach Kappadokien und runter bis nach Adana. Die Lastwagenfahrer, die ein aehnliches Schicksal wie ich teilen, auf und neben der Strasse tage- und wochenlang leben, laden mich des Oefteren zum Tee ein. Ein weiterer hat Erbarmen mit mir, haelt vor mir an und schlaegt mir vor, das Velo aufzuladen. Ein bloeder Taxifahrer macht sich einen Spass daraus, mich bei hoher Geschwindigkeit moeglichst nahe zu überholen und mir einen Schrecken einzujagen. Ich bin noch daran, ihm alle wüsten Verwünschungen auf den Weg zu geben, als das Hinterrad einen beunruhigenden Laut von sich gibt: ‘Pffft.’ Wieder ein Platten ! Langsam bin ich geübt und in etwas mehr als dreissig Minuten kann es weitergehen (den Pneu ziehe ich jeweils ohne Pneuheber auf: Danke fuer den Trick, Kilian!). Ein Lastwagenfahrer bietet mir wieder seine Hilfe an und fragt etliche Male nach, ob ich nicht doch lieber mit dem Laster mitfahren moechte.

Kurz vor Aksaray zieht ein Gewitter auf. Beim Otogar (Busbahnhof) erkundige ich mich nach den Busverbindungen zwischen Kayseri und Aksaray, suche ein nettes Hotelzimmer aus und begebe mich nach dem Abendessen zum Otogar, wo Ruth um Mitternacht eintrifft. Finalmente !

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